Die Kometenjäger: Roman (German Edition)
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KAPITEL 5
W ozu musste man Kometen überhaupt jagen? Bisherhatte es mir niemand erklären können, und in den Gesprächen mit Livingston kam ich der Antwort kein Stück näher. Anfangs hatte ich geglaubt, Eitelkeit spiele dabei eine Rolle, Ruhm oder sogar die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Musste es nicht verlockend sein, einem Objekt den eigenen Namen einzugravieren, das so alt war wie die Erde selbst? Aber Livingston sagte, die Jagd habe ihn höchstens Demut gelehrt. Oder wie er sich ausdrückte: »Das Universum hat mich oft in den Hintern getreten.«
Um seinen ersten Kometen zu finden, hatte Livingston zwölf Jahre gebraucht. Zwölf Jahre zwischen dem Kauf seines ersten Teleskops in einem Sears-Warenhaus einer Kleinstadt am Michigansee und dem Telegramm, das er im November 1977 an die Internationale Astronomische Union in Cambridge schickte und das zur Benennung von »Livingston 1977y« führte. Dazwischen lagen nach seiner eigenen Schätzung etwa tausend Stunden Beobachtungszeit. Tausend Stunden, die er unter dem freien Himmel verbracht hatte, jeden Morgen zwei Stunden vor Anbruch des Tages und abends zwei Stunden nach Einbruch der Dämmerung. Wie konnte man solche Mühen auf sich nehmen für einen großen Ball, der dabei war, sich in interstellaren Staub aufzulösen? Livingston wusste auch keine Antwort darauf.
Seine Beziehung zu Kometen hatte im September 1965 begonnen, als zwei japanische Amateurbeobachter im südlichen Sternbild Hydra einen »Sungrazer« der Größenklasse acht entdeckten, der sich direkt auf die Sonne zubewegte. Sungrazer sind Kometen, deren Bahn gefährlich nah an der Sonne vorbeiführt, sie streifen sie fast und laufen Gefahr, in sie hineinzufallen – oder durch die gewaltige Gravitation auseinandergerissen zu werden. Ikeya-Seki jedoch umrundete unseren Stern in einer eleganten Haarnadelkurve und kam unbeschadet zurück. Als er im Oktober 1965 hinter der Sonne hervortrat, hatte er die Helligkeit von sechzig Vollmonden. Sein Schweif leuchtete mitten am Tag neben der Sonne.
Der junge Daniel Livingston sah den Kometen morgens auf dem Weg zur Schule eher zufällig. Er hatte bei einem Freund übernachtet und musste früher aufstehen, um seine Sachen für die Schule von zu Hause zu holen. Es war der erste klare Morgen seit Wochen. Im Südosten über dem Michigansee kündigte sich die Sonne an, und – so sagte er mir – es sah aus als steige der helle Kometenschweif aus dem Wasser auf. Als der junge Daniel Livingston wenige Tage später in der Schule einen Aufsatz über sein Berufsziel verfassen musste, schrieb er: »Ich möchte einen Kometen entdecken.«
In den Nächten des folgenden Jahrs waren ein kleines Vierzoll-Warenhaus-Teleskop und die Messier-Objekte Livingstons ständige Begleiter. Er betrachtete Jupiters cremefarbene Bänder und das blaue Licht von Sirius. Oft betrachtete er gar nichts Bestimmtes. Am liebsten richtete er das Teleskop einfach mit niedriger Vergrößerung auf eine »dichte« Gegend des Himmels und tauchte ein in dieses Panorama voller Sterne.
Die Kometen kamen und gingen. Die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts waren eine glückliche Zeit für die Jäger, vielleicht sogar die beste. In mancher Hinsicht ähnelten die Zeiten wieder der Ära Messiers. An großen Kometen bestand kein Mangel, und Amateure wetteiferten um die besten Funde. Dominiert wurde der Wettbewerb von den Japanern. Die Berge Japans boten Dunkelheit und einen tiefen Einblick in den südlichen Himmel, was den Jägern dort gegenüber den Europäern und Amerikanern einen Wettbewerbsvorteil verschaffte. Minoru Honda fand zwölf Kometen und inspirierte in seiner Heimat eine ganze Generation von Amateuren: Tsutomu Seki, Kaoru Ikeya, Akihiko Tago. Auf japanischen Bergen mit Meerblick waren zeitweise alle Hütten an Kometenjäger vermietet. Neue Schweifsterne wurden, sobald sie am Horizont erschienen, von bis zu acht Jägern gleichzeitig entdeckt. Manchmal gelang es einem einzelnen von ihnen, zwei Kometen in einer Nacht zu finden.
Der Student der englischen Literatur Daniel Livingston hörte diese Geschichten mit einer Mischung aus Neid und Ehrfurcht. In Japan, erfuhr er, bekam jeder erfolgreiche Jäger eine Audienz beim Kaiser. Und der Terminkalender des Kaisers wurde immer voller.
Daniel beschäftigte sich nun tagsüber mit Byron und Shakespeare, nachts beobachtete er Cor Caroli und die Whirlpool-Galaxie mit seinem billigen Sechszöller.
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