Die Kommissarin und der Tote im Fjord
»Nehmen Sie einen Pfefferkuchen«, sagte sie.
Lena nahm einen herzförmigen Pfefferkuchen und legte ihn auf ihren Teller. Sie überlegte, welche Worte sie wählen sollte, um das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. Sie beschloss, zunächst ein bisschen Konversation zu treiben, nach einem Anknüpfungspunkt zu suchen. Aber die Hitze raubte ihr noch immer fast den Atem. Diese Wohnung mit ihren schweren Gardinen, den noch schwereren Portieren, ebenso schweren Möbeln und Ameisen auf dem Boden verursachten ihr langsam Platzangst. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass die Ameisen ihre Beine hinauf krabbelten, spürte akuten Juckreiz und wäre am liebsten geflüchtet.
Sie stand auf, zwängte sich zwischen Sofa und Tisch hindurch und trat in den freien Raum in der Mitte des Zimmers.
»Was ist denn?«, fragte Bodil Rømer.
»Der Zug«, sagte Lena. »Ich bin etwas empfindlich gegen Zug.«
»Na so was«, sagte Bodil Rømer. »Es ist kalt, das stimmt, ich werde die Heizung hochdrehen!«
Lena hörte kaum zu. Sie befand sich wieder in der Szene, als der Sohn dieser Frau über sie hinweg fiel und sie sich an die Felsen klammerte.
Nein, sagte sie schnell zu sich selbst. Was passiert ist, war nicht meine Schuld. Er war es, der mich zum Abgrund gezerrt hat. Er war es, der mich ins Meer werfen wollte.
Lena stand mit geschlossenen Augen da. Sie zählte die Tage. Bodil Rømer glaubte augenscheinlich, ihr Sohn sei im Ausland und am Leben. Warum? Warum hatte Ingrid Kobro sie nichtvom Ableben ihres Sohnes informiert? Und warum hatte diese Frau so traurige Augen?
»Also dass Sie Stian im Urlaub getroffen haben und jetzt zu mir zu Besuch kommen … Sie sind ein nettes Mädchen.«
»Total blöd von uns, nicht die Telefonnummern auszutauschen«, sagte Lena. »Aber so ist es manchmal mit den Ferien. Ehe man sich’s versieht, muss man schon wieder abreisen, und dann erst erinnert man sich daran, was man eigentlich noch alles tun wollte.«
»Ich werde Stian erzählen, dass Sie hier waren, wenn er das nächste Mal kommt. Ich werde ihm sagen, dass er an Ihnen festhalten soll!«
Ich muss bald zur Sache kommen, dachte Lena. »Leckerer Kaffee«, sagte sie und versuchte ein Lächeln.
»Ach, ich bin so tüdelig«, sagte Bodil Rømer und schenkte ihr nach. Sie hielt die Kanne mit beiden Händen. Lena bemerkte, dass die eine Hand verkrüppelt war. Drei Finger rollten sich auf unnatürliche Weise in die Handfläche hinein. Gicht, dachte Lena. In dem Moment begegneten sich ihre Blicke. Als Bodil Rømer die Kanne absetzte, verbarg sie ihre Hände verschämt unter der Tischplatte.
Lenas Schuldgefühl wuchs. Sie wandte sich ab, sah an die Wand.
Dort fiel ihr Blick auf ein Abiturfoto. Der Text besagte, dass es sich um die Abschlussklasse des Gymnasiums Drammen handelte. Sie nahm das Bild von der Wand und betrachtete es. Bodil Rømer lächelte. »Ja, das ist Stians Schulfoto.«
Lena scannte die Köpfe mit den Abitursmützen. Das Foto war neunzehn Jahre alt. Sie hatte keine Ahnung, wie Stian Rømer vor neunzehn Jahren ausgesehen hatte.
Dann wurde ihr schwindelig, und sie musste sich an der Wand abstützen.
»Was ist denn, ist Ihnen nicht gut?«
Lena schüttelte den Kopf. Wenn sie vorher geschwitzt hatte, dann war ihr jetzt eiskalt. »Ich glaube, ich hab Stian gefunden«, sagte sie, legte das Foto auf den Tisch und zeigte darauf.
»Nein«, sagte Bodil Rømer und schob das Foto mit ihrer verkrüppelten Faust zurecht. »Das hier ist Stian«, sagte sie und zeigte mit einem schiefen kleinen Finger auf einen Kopf. »Der andere ist Steffen, sein Freund, aber die beiden sehen sich ziemlich ähnlich, das muss ich zugeben.«
Lena bewahrte ein Pokerface und schaffte es sogar zu lächeln. »Ich bin ja doof, jetzt sehe ich es natürlich. Ich habe beide dort getroffen, auf Ibiza, Stian und Steffen waren zusammen in Urlaub.«
»Ja, wie damals«, sagte Bodil Rømer. »Steffen und Stian, sie waren wie siamesische Zwillinge, ganz unzertrennlich.«
»Hat Steffen in letzter Zeit versucht, Kontakt zu Stian aufzunehmen?
»Er hat angerufen, aber ich konnte ihm ja nur sagen, was ich Ihnen auch gesagt habe, dass Stian im Ausland ist.«
3
Als sie durch Lierskogen fuhr, die Hügel in Richtung Asker hinunter, und Oslo sich wie ein spiegelverkehrter Sternenhimmel vor ihr ausbreitete, hatte Lena eine Idee. Sie durchdachte sie erst einmal und dann noch einmal. Mit jedem Mal wurde die Idee besser. Als sie sich Sandvika näherte, holte sie ihr Handy heraus
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