Die Kommissarin und der Tote im Fjord
ihr. Sie interessiert mich nicht. Ich habe keine Zeit, um Zeitungen zu lesen. Schon seit mehreren Wochen nicht. Ich verstehe überhaupt nicht, was das Ganze soll!«
Sie betrachtete ihn mit weit aufgerissenen, klaren blauen Augen.
»Glauben Sie, jemand könnte Ihnen damit schaden wollen?«, fragte Gunnarstranda. »Jemand, der Ihnen Ärger machen oder Sie beim Lernen stören will zum Beispiel?«
Die junge Frau dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Keine Ahnung, absolut nicht.«
»Ein Geliebter, den Sie gerade verlassen haben, oder vielleicht die Ex Ihres Jetzigen?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Bin verlobt, und das schon eine ganze Weile.«
»Jemand, der Sie vielleicht beneidet?«
Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Aber wieso denn?«
»Sie studieren, vielleicht sind Sie sogar gut. Können Sie sich jemanden vorstellen, der sich Gemeinheiten ausdenken könnte, weil er eine Rechnung mit Ihnen offen hat?«
»Keine Ahnung.«
»Jemand, den Sie mit Ihrer Wesensart provozieren?«
Sie dachte eine Weile nach. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Mir fällt niemand ein.«
»Jemand hat diesen Drohbrief in Ihrem Namen geschrieben. Warum Ihr Name?«
»Tut mir leid. Ich habe keinen Schimmer.«
»Das Verrückte an dem Drohbrief ist gerade, dass er unterzeichnet wurde«, sagte Gunnarstranda. »Echte Drohbriefe tragen keine Unterschrift. Sie werden anonym verschickt. Deshalb glaube ich, dass jemand Ihnen Ärger machen will.«
Gunnarstranda verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Hoffentlich stört Sie das nicht beim Lernen. Andererseits scheint irgendwer Ihnen mit diesem Brief Probleme machen zu wollen. Sollte Ihnen doch noch einfallen, wer es gewesen sein könnte, dann melden Sie sich doch bitte.« Er reichte ihr seine Visitenkarte. »Abgemacht?«
Sie nickte.
Gunnarstranda ging zur Tür und schaute noch einmal zum Tisch hinüber. »Viel Glück beim Lernen und beim Examen.«
5
Eine Krähe schlug mit den Flügeln und hüpfte über die Schneedecke. Der Anblick erinnerte Lena an einen Mann mit Buckel – den Glöckner von Notre-Dame. Kaum hatte sie das gedacht, entdeckte sie eine weitere Krähe. Dann flatterte es hinter einem Baumstamm. Es waren viele. Graue und schwarze Krähen mit schwarzen, kräftigen Schnäbeln. Eine von ihnen starrte sie an. Die Augen wie Knöpfe. Eine andere hatte etwas Rotes im Schnabel. Leichenfledderer, dachte Lena und entdeckte im nächsten Moment den Kadaver. Er lag am Fuß des Baumstamms. Fleischreste vermischt mit zottigem Fell. Die Krähen hackten und zerrten Fetzen von einem kleinen Tier, vielleicht von einer kleinen Katze.
Die Ampel am Grønlandsleiret sprang auf Grün, und als Lena die Straße überquerte und sich dem Baumstamm näherte,erschraken die Krähen und hüpften davon. Sie wandte den Blick von ihnen ab und entdeckte einen Mann in kurzer Lederjacke und den Motorradstiefeln, der ihr entgegenkam. Lena steuerte auf ihn zu.
»Rise!«
»Ja?«
Lena kam sofort zur Sache. »Ich muss dich was fragen. Es geht um den Tipp, den du bekommen hast, dass Sveinung Adeler am Mittwochabend mit Aud Helen Vestgård essen war. Ich muss wissen, woher du den hattest.«
Fartein Rise sah sie lange an, ohne etwas zu sagen, bevor er fragte: »Wieso?«
»Ich habe eine Abreibung bekommen, weil ich sie zuhause befragt habe.«
Fartein Rise stieß einen Pfiff aus. Diese Information schien ihn irgendwie positiv zu stimmen. Er sagte: »Ich habe es von einem Journalisten erfahren.«
»Und von wem?«
»Er arbeitet bei Dagens Næringsliv. Steffen Gjerstad.«
Lena schwieg verblüfft.
»Wir haben über dich gesprochen, und er hat gesagt, er hätte versucht, dich anzurufen, aber du wärst nicht drangegangen.«
Ich bin eine eingebildete Gans, dachte Lena und stapfte weiter den Hügel zum Polizeipräsidium hinauf.
Als Steffen Gjerstad am Tag zuvor angerufen hatte, war sie nicht drangegangen, weil sie geglaubt hatte, er versuche, sie anzubaggern. Aber er hatte ihr offenbar nur einen Tipp zum Fall Sveinung Adeler geben wollen. Alles, was sie anfasste, lief momentan schief.
Lena nahm den Fahrstuhl und ging in ihr Büro. Dort holte sie die Visitenkarte heraus, die Gjerstad ihr am Vortag gegeben hatte.
Ihre Finger zitterten, als sie die Nummer eingab.
Das Telefon klingelte nur einmal, bevor er abnahm. »Hier ist Lena«, sagte sie. »Stigersand«, fügte sie schnell hinzu.
»Hei Lena, ich habe auf deinen Anruf gewartet.«
»Du hast einem Kollegen von mir, Fartein Rise, die
Weitere Kostenlose Bücher