Die Kommissarin und der Tote im Fjord
einem Haus ohne Fahrstuhl. Sie stand in der Tür, als er sich schnaufend die letzten Treppenstufen hinaufquälte. Eine blonde junge Frau Mitte zwanzig in einer weiten Jogginghose und einem riesigen selbstgestrickten Pullover.
In der Wohnung herrschte eine Backofenhitze. Die Luft roch intensiv nach Spiegeleiern und Morgenstimmung. Eine sanfte Stimme sang leise aus einer Ministereoanlage. Gunnarstranda warf sich die Winterjacke über den Arm und registrierte die CD-Hülle auf dem Lautsprecher: Norah Jones . Der Musikgeschmack der jungen Frau stimmte ihn sofort freundlich.
Er fragte, ob sie einen Ausweis bei sich hätte.
»Ich habe eine Kreditkarte mit Foto. Wenn Sie meinen Pass sehen wollen, muss ich suchen.«
»Die Kreditkarte ist okay.«
Die junge Frau hob eine Umhängetasche vom Boden auf und wühlte aufgeregt darin herum.
Gunnarstranda fragte: »Woran denken Sie, wenn Sie den Namen Aud Helen Vestgård hören?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ihr langes Haar trug sie hochgesteckt. Sie fuhr fort, nach ihrer Kreditkarte zu suchen.
Gunarstranda sah sich um. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein unordentlicher Haufen abgegriffener Fachbücher, loser Zettel und aufgeschlagener Hefte. Neben den Büchern stand ein Teller mit Resten von Brot und Spiegelei. Sie war mitten im Frühstück gestört worden und hatte es nicht geschafft, sich etwas anderes als Pulli und Jogginghose überzuziehen. Offensichtlich eine Studentin, die zuhause saß und lernte. Plötzlich fühlte er eine Art väterlicher Fürsorge für die junge Frau. Außerdem bekam er Hunger.
Endlich. Sie reichte ihm die Karte. Er betrachtete sie eingehend. Das Foto war von ihr. Wenn er der Unterschrift auf dem Drohbrief Glauben schenken durfte, dann hatte diese Frau ihn geschrieben. Er reichte ihr die Karte zurück.
»Wissen Sie, wer Vestgård ist?«, fragte er.
»Ich weiß, dass sie eine Politikerin ist, ja, aber ich interessiere mich nicht für Politik.«
Er nickte zu den Büchern hinüber. »Was machen Sie?«
»Ich lerne fürs Examen.«
Er griff nach einem Buch. Der Titel war auf Englisch, und der Umschlag war mit einem menschlichen Körper illustriert, bei dem nur die Muskeln zu sehen waren. Ein Lehrbuch der Anatomie.
»Medizin?«
»Kinesiologie, das ist eine Art Medizin, aber alternativ.« Noch immer wirkte sie verwundert und schien sich unwohl zu fühlen. Über der Heizung unter dem Fenster hingen drei Unterhosen und eine rote Strumpfhose zum Trocknen. Sie raffte alles zusammen und stand dann mit dem Knäuel in der Hand da und wusste nicht, wohin damit. Sie sagte: »Tut mir leid.«
»Sie brauchen meinetwegen nicht aufzuräumen«, sagte er. »Kinesiologie – Sie beschäftigen sich also mit Energiebahnen im Körper und sowas?«
Sie lächelte über seinen Versuch, ihr entgegenzukommen. »So ähnlich. Und mit noch etwas mehr.«
»Meine Lebensgefährtin interessiert sich für alle möglichen alternativen Geschichten«, sagte er.
Sie nickte und machte die Musik aus.
»Homöopathie und Healing und so.«
Wieder nickte sie.
Gunnarstranda nahm ein Heft vom Tisch, das Notizen enthielt. Er studierte die Handschrift – sie war deutlich anders als die in dem Drohbrief. Diese Notizen waren mit einer sehr zierlichen Schrift geschrieben. Die Buchstaben A und R hatten fast die Form von Druckbuchstaben – kunstvoll und ganz anders als diese Buchstaben im Drohbrief geschrieben worden waren. »Ihre Notizen?«, fragte er.
Erneutes Nicken.
»Ich möchte, dass Sie sich das hier ansehen.« Er griff in seine Jackentasche und reichte ihr eine Kopie des Drohbriefes.
Sie klemmte sich die Unterwäsche unter den Arm und hielt den Brief mit beiden Händen, während sie las. Als ihr klar wurde, was da stand, verdrehte sie die Augen und schnappte nach Luft.
»Unterschrieben mit meinem Namen?«
»Können Sie mir das erklären?«
Sie schüttelte den Kopf. »Hab diesen Brief noch nie gesehen.«
Er blätterte in ihren Notizen und bemerkte, dass sie den Buchstaben G wie einen Angelhaken abschloss. In dem Brief sahdieser Buchstabe eher aus wie eine Locke. »Dieser Brief ist Aud Helen Vestgård im Parlament zugestellt worden«, sagte er. »Da der Inhalt als Morddrohung betrachtet werden kann, müssen wir untersuchen, ob diese Drohungen eine reale Gefahr darstellen. Ihr Name steht unter dem Brief, und jetzt sagen Sie, Sie hätten ihn nicht geschrieben. Die Frage ist, ob ich Ihnen glauben soll oder nicht. Was halten Sie von Aud Helen Vestgård?«
»Ich habe keine Meinung zu
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