Die Kommissarin und der Tote im Fjord
Beton.
Plötzlich brach der Klingelton ab.
Gunnarstranda blieb stehen und lauschte.
Hörte nur das Rauschen der Stadt von weit her. Sein Mund war trocken. Er richtete den gelben Lichtstrahl nach hinten. Niemand zu sehen.
Er leuchtete nach vorn. Er befand sich nah an der Außenwand des Gebäudes. Die Geräusche der Stadt drangen durch ein Loch in der Wand herein, die Öffnung irgendeines unfertigen Fensters.
Der Lichtstrahl malte einen gelben Kreis an die Wand, wanderte diese entlang und auf den Boden, wo er etwas streifte. Gunnarstranda hielt in der Bewegung inne und ließ den Strahl langsam zurückwandern.
Ein längliches Bündel lag unter dem gähnenden Loch in der Wand.
Gunnarstranda ahnte Schlimmes und trat langsam näher.
Das Bündel war ein Körper. Der Körper hatte nur ein Beinund lag in einer verrenkten Stellung da. Der Fuß zeigte in den Himmel, das Gesicht lag auf dem Beton. Gunnarstranda ging in die Hocke.
Stigs Hinterkopf war ein geronnener Blutpudding.
Er drehte den toten Körper auf den Rücken. Das Loch in der Stirn war rund wie ein Kronenstück.
Gunnarstranda schaltete die Lampe aus, blieb in der Hocke, reglos. Er hielt die Luft an und lauschte, hörte aber nur das Rauschen des Verkehrs durch das Fenster.
Die Schritte, die er gehört hatte, waren die Schritte eines bewaffneten Mörders gewesen. Und das Einzige, womit er sich jetzt verteidigen konnte, war eine defekte Taschenlampe.
Aber so konnte er nicht hocken bleiben.
Mit trockenem Mund und klopfendem Herzen durchsuchte er Stigs Taschen. Kein Handy. Er musste es finden, griff nach seinem eigenen und wählte Stigs Nummer.
Jingle Bells.
Gunnarstranda stand auf. Drehte sich in die Richtung. Ging zwei Schritte. Wieder brach das Klingeln unvermittelt ab.
Gunnarstranda hockte sich wieder hin.
Er verharrte, ohne sich zu bewegen, aber nichts geschah. Nur das Geräusch von Schritten war zu hören, jetzt so klar wie Kirchenglocken am Sonntagmorgen.
Unendlich langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Vage erkannte er die Umrisse der Öffnung in der Betonwand.
Er konzentrierte sich und meinte, einen Schatten zu erkennen, der sich auf die Öffnung zu bewegte.
Gunnarstranda stand auf. Der Schatten verschwand. Gunnarstranda folgte ihm durch die Türöffnung. Hier herrschte ein stärkerer Luftzug. Er blieb stehen.
Der Zug kam von unten. Er schüttelte die Taschenlampe und versuchte, sie einzuschalten. Schüttelte erneut. Sie leuchtete.
Er stand am Rande eines Abgrunds. Eines quadratischen Lochs im Boden.
Gunnarstranda schnappte nach Luft, während seine Hände nach etwas suchten, woran sie sich festhalten konnten. Sie fanden nichts, aber er gewann die Balance zurück.
Eine Vibration ließ ihn zwei Schritte zurücktreten, ohne dass er wusste warum. Der Knall ließ ihn zusammenzucken. Ein Betonblock donnerte auf den Boden, genau an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Der Beton zerbarst, und er bekam ein paar Brocken Zement und Kiesel ins Gesicht.
Vor Schreck ließ er die Taschenlampe fallen. Er bückte sich und tastete nach ihr, aber sie rollte auf den Schacht zu und verschwand in der Tiefe.
Auf allen vieren blinzelte er sich den Zementstaub aus den Augen.
Dann stand er auf. Suchte nach einem Halt. Seine Hand fand die Wand.
Langsam tastete er sich im Dunkeln zur Treppe vor. Der Mann, der irgendwo dort oben war, musste die Treppe nehmen, um nach draußen zu kommen.
Da hörte er wieder Schritte.
Im selben Moment bekam er einen heftigen Stoß und fiel. Er hielt schützend beide Hände vor den Körper und schabte sich beide Handflächen auf. Eine Gestalt sprang über ihn hinweg und lief weiter die Treppe hinunter.
Gunnarstranda kam auf die Beine und stolperte hinterher. Doch dann fiel er wieder und schlug mit der Schläfe auf. Wieder rappelte er sich auf.
Schließlich kam er unten an.
Kein Mensch war zu sehen. Nur Schnee, der Kran, der Kompressor und ein gähnendes Loch im Zaun.
Gunnarstranda lehnte sich an die nackte Betonwand, vollkommen außer Atem. Wieder griff er nach dem Handy in seiner Tasche. Rief Stigs Nummer an und legte das Handy ans Ohr. Jetzt nahm jemand ab. Er konnte das Rauschen des Verkehrs und das Geräusch von Schritten hören.
»Wer sind Sie?«, fragte er und lauschte.
Er hörte, wie die Schritte innehielten. Es folgte ein langes Schweigen. Als Gunnarstranda die Frage wiederholen wollte, verstummten die Geräusche.
Er ließ das Handy sinken. Die Verbindung war abgebrochen.
SONNABEND, 12.
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