Die Kommissarin und der Tote im Fjord
DEZEMBER
1
Ein scharfer Strahl der tief stehenden Wintersonne traf das Wasserglas, änderte seine Richtung und stach ihm in die Augen. Der Wecker wollte nicht aufhören zu klingeln. Gunnarstranda hob einen Arm, tastete und schaffte es, ihn auszuschalten. Es war wenige Minuten nach neun Uhr morgens. Drei Stunden hatte er geschlafen. Er schwang die Beine aus dem Bett, griff nach dem Wasserglas und trank es in einem Zug aus.
Tove war schon zur Arbeit gegangen. Ein leerer Teller stand neben einer Packung Müsli auf dem Küchentisch.
Im ganzen Raum roch es nach angebranntem Kaffee. Tove hatte die Kaffeemaschine nicht ausgeschaltet. Noch ein halber Liter in der Kanne. Er schenkte sich eine Tasse ein und verdünnte ihn mit Milch aus dem Kühlschrank. Einen Moment lang betrachtete er reglos den Inhalt des Kühlschranks, konnte sich aber nicht entscheiden, ob er hungrig war oder nicht. Er wusste nur, dass er müde war.
Schließlich ging er ins Bad. Lange stand er da und überlegte, ob er duschen sollte. Am liebsten wäre er wieder ins Bett gegangen.
Er sah noch einmal auf die Uhr. Es waren fast zwanzig Minuten vergangen, und das Einzige, was er bisher an diesem Tag geschafft hatte, war, sich einen Kaffee einzuschenken.
Er ging zum Telefon, rief die Gerichtsmedizin an und fragte, ob dort der Obduktionsantrag für die Leiche von Nina Stenshagen schon eingegangen sei. Das war nicht der Fall. Er bat darum, mit Schwenke verbunden zu werden.
»Es ist Samstag.«
»Na und?«
SPONSORED READING BY www.boox.to
»Ich bin nicht sicher, ob er da ist.«
»Versuchen Sie’s«, sagte Gunnarstranda ärgerlich.
Das Telefon klingelte lange. Gunnarstranda überlegte schon, ob er auflegen sollte. Aber dazu kam er nicht.
»Schwenke.«
»Hier ist Gunnarstranda. Es geht um Nina Stenshagen. Sie wurde Donnerstagmorgen von einer T-Bahn überfahren. Können Sie eine Obduktion vornehmen?«
Schwenke wollte wissen, warum.
»Ich will wissen, ob sie erschossen wurde, bevor der Zug sie überrollte«, sagte Gunnarstranda. »Und ja, ich habe gewichtige Gründe, das zu vermuten.«
Er legte auf.
Blinzelnd schaute er in die tief stehende Sonne vor dem Fenster. Er fühlte sich verbraucht und unwohl. Der ruhige Feierabend, mit dem er den vergangenen Tag krönen wollte, hatte sich zu einer langen Arbeitsnacht am Tatort eines Mordes entwickelt. Außerdem war er selbst einem Mordversuch ausgesetzt gewesen! Er hatte mehr als drei Stunden Schlaf verdient.
Also stapfte er zurück ins Schlafzimmer und kroch wieder unter die Decke.
Sobald er die Augen geschlossen hatte, fühlte er sich hellwach. Er öffnete sie wieder und betrachtete durch das Fenster den blauen Himmel. Es hatte keinen Sinn. Er würde doch nicht einschlafen können.
Also stand er auf und nippte an der Kaffeetasse. Das war immerhin ein Anfang.
2
Lena begann den Samstagmorgen damit, ihr Handy abzuschalten. Sie hatte viel zu tun und brauchte eine Pause von der Erreichbarkeitstyrannei. Dann schrieb sie eine To-do-Liste. Sie musste Hammelrippchen kaufen, geräuchert und gesalzen, sie brauchte Puderzucker und Mandeln für Marzipan und Kong-Haakon-Pralinen. Mindestens drei Schachteln. Und Weihnachtsgeschenke.
Sie saß da und biss auf ihrem Kugelschreiber herum. Ihre Gedanken wanderten zu dem Mann im Hafenbecken. Der kam Weihnachten nicht nach Hause. Aber es gab Angehörige, die immer noch warteten. Sie musste ihnen sagen, wann die Leiche freigegeben würde. Nicht vergessen.
Schließlich hatte Lena zwei To-do-Listen. Eine für die Arbeit und eine für Weihnachten.
Gott sei Dank, dachte sie, dass ich so ein Kontrollfreak bin, der mit dem Einkaufen von Weihnachtsgeschenken schon im Januar anfängt. Auf jeder Ferienreise oder beim kurzen Bummeln durch einen exotischen Laden in der Stadt kam ihr häufig dieser Gedanke in den Sinn. Duftkerzen mit Zimt? Könnte das nicht ein schönes Geschenk für Ingeborg sein? Oder ein Glas mit Kastanienhonig aus Italien? Oder das schicke Top? Aber, dachte Lena, offenbar bin ich doch nicht Kontrollfreak genug. Es stehen immer noch Namen auf der Liste ohne Geschenk. Und sie hatte immer noch kein Geschenk für Mama gekauft.
Was sollte sie ihr bloß schenken? Sie hatte keine Ahnung. Sie biss auf dem Kugelschreiber herum, doch ihr wollte einfach nichts einfallen. Schließlich stand sie auf und ging zum Laptop, der an die Anlage angeschlossen war. Eine kurze Suche im Netz – die Liste der Weihnachtsradios war lang. Sie wählte xmasmelody.com. Chris Reas
Weitere Kostenlose Bücher