Die Kommissarin und der Tote im Fjord
hätte, dann hätte er geschossen. Da bin ich mir sicher.«
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille zwischen ihnen, als würde Ingrid sehr genau abwägen, was sie jetzt sagen wollte. Schließlich schüttelte sie resigniert den Kopf. »Lena, was ist eigentlich mit dir los? Wenn er hinter Vestgård her war, dann ist doch klar, dass er wusste, wer du bist.«
Sie sahen sich ein paar Sekunden in die Augen.
Lena war nicht zufrieden mit Ingrids Argument und spürte, dass auch Ingrid nicht überzeugt war. Dennoch fuhr Ingrid in ärgerlichem Ton fort:
»Tatsache ist, dass Stian Rømer von dir – einer Polizeibeamtin – Besuch bekommen hat und dass er jetzt mit dem ersten möglichen Flug das Land verlassen hat. Unser Einsatz gegen Rømer ist wahrscheinlich fehlgeschlagen. Und du begreifst nicht einmal, was für einen Fehler du gemacht hast!«
Die Tür knallte hinter ihr ins Schloss.
Lena stand da und sah die Tür an. Warum war Ingrid so sauer gewesen? Nicht sie war von einem verrückten Berufskiller verfolgt worden. Und sie hatte auch keine Winterjacke für viertausend Kronen verloren.
Lena sank auf einen Stuhl.
Die Bilder kamen langsam und schleichend und ließen sich nicht aufhalten. Der Anblick des durchtrainierten Maschinenmannes, der sich die Waffe hinter den Rücken steckte. Die Panik, die ihr Gehirn gelähmt hatte, als sie mit einem Terminator auf den Fersen rannte. Der Blutgeschmack im Mund und das Gefühl, als die Beine vor Anstrengung zu schmerzen begannen.
Lena wusste eines genau: Sie vertraute Ingrid nicht.
Die Behauptung, der Mann habe den Wagen abgeliefert, war eine Art Versicherung, die sie selbst schon unzähligen Klienten gegeben hatte. Eine leere Phrase, um jemanden zu beruhigen, eine Schutzbehauptung.
5
Auf dem Nachhauseweg ging sie schnell beim Sultan vorbei und kaufte Obst und Gemüse. Ließ sich verführen von einer riesigen Tüte Kirschen. Dachte über die wundersame Tatsachenach, dass während sich in dem Land, in dem sie wohnte, der Frost immer tiefer in die Erde bohrte, an anderen Orten auf der Welt Menschen solche Schätze unter der Sonne ernteten.
Im Radio sang Alicia Keys von New York, während Lena am Küchentisch saß, den Salat in kleine Stücke riss und Tomaten aufschnitt. Sie stand auf und drehte die Musik lauter. Stand einen Moment da und dachte an New York.
Sofort war ihr klar, was sie im Sommer tun wollte: nach New York fliegen, sich in einem der kleineren Hotels in der Lower Eastside einmieten, in schicke Boutiquen gehen, einen witzigen Hut kaufen, im Sonnenschein auf einer Bank am Washington Square sitzen, im Strom der Menschen auf dem Boardwalk über die Brooklyn Bridge schlendern, stehen bleiben und Fotos von der Skyline von Manhattan schießen.
Sie streute Pinienkerne in die Pfanne.
Wenn ich gesund bin.
Sie hielt in der Bewegung inne und starrte leer in die Luft. Zuckte zusammen, als die Pinienkerne knisterten. Mist! Verbrannt oder nicht – sie streute sie trotzdem über die Salatblätter, schnitt Gurke in Scheiben und mixte eine Vinaigrette aus Olivenöl, Weißweinessig, Pfeffer und Salz. Gönnte sich ein wenig Dijon-Senf und Honig für das Finish. Vermischte das Ganze und streute zum Schluss Fetawürfel darüber.
Nachdem sie gegessen hatte, fand sie den Song von Alicia Keys in einem Internetshop und lud ihn sich herunter. Suchte nach anderen Melodien und vergaß die Zeit, hörte erst auf, als Steffen an der Tür klingelte.
Jetzt fangen wir eine Beziehung an, dachte sie, als sie sah, wie selbstverständlich er sich in ihrer Wohnung bewegte. Trotzdem, dachte sie weiter: Wir sind noch nicht wirklich vertraut miteinander.
Es war eine Art einstudiertes Stück, das sie einander vorspielten. Sie eröffneten das Gespräch mit leeren, tastenden Phrasen und setzten sich schüchtern nebeneinander auf das Sofa. Sie redeten weiter über Gott und die Welt. Lena fragte, ob er Alicia Keys möge, bemühte sich, nicht über Rihanna zu sprechen, weil sie nicht über Sveinung Adeler reden wollte. Er fragte zurück, nach Musik, Büchern, Filmen, die sie gesehen hatte. Sie lächelten über gemeinsame Vorlieben, saßen nebeneinander und erforschten einander, ohne zu wagen, dem anderen zu verraten, was sie eigentlich wollten, so lange, bis sie spürte, wie seine Hand ihre suchte. Von dem Moment an sagten sie kein einziges Wort mehr. Und es dauerte nur noch wenige Sekunden, bis er sie an sich zog.
Als sie später aus dem Bett sprang, wollte sie die Tüte mit den Kirschen holen. Sie
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