Die Kommissarin und der Tote im Fjord
die Atmosphäre war geladen. »Bleibst du über Nacht?«, fragte sie und spürte, dass sie es sich wünschte, sehr sogar.
Er schüttelte den Kopf und lächelte schwach, als er die Enttäuschung in ihrem Blick las. »Nächstes Mal vielleicht. Ich muss heute Abend arbeiten.«
DONNERSTAG, 17. DEZEMBER
1
Sie wachte auf, bevor der Wecker klingelte. Es war zehn vor sechs, und sie fühlte sich frisch und ausgeruht. Genug Zeit, um noch eine Morgenrunde auf der beleuchteten Loipe zu schaffen.
Aber das Licht auf der Loipe war noch nicht eingeschaltet, nur der Mond stand hoch und weiß am Himmel, und die Schneedecke schimmerte blaugrau darunter. Beides zusammen ergab genug Helligkeit, um ein paar Meter weit sehen zu können. Als sie die Runde fast beendet hatte, ahnte sie Bewegungen zwischen den Bäumen am Parkplatz. Sie hatte gar nicht genug Zeit, um Angst zu bekommen, als sie den Schatten schon größer werden sah.
Lena schrie und warf sich in den Schnee.
Sie lag still und lauschte. Nichts geschah.
Langsam hob sie den Kopf.
Es war ein Reh. Ein paar Meter vor der Spitze ihrer Skier blieb es stehen und betrachtete sie.
Dann lief es weiter, stolzierte mit leichten, knirschenden Schritten an ihr vorbei und verschwand in der Dunkelheit.
Da kam der nächste Flash.
Die Stille, die sich bis dahin wunderbar befreiend angefühlt hatte, wurde plötzlich bedrohlich. Das Schimmern des Schnees war nicht mehr schön, sondern grau und undurchsichtig. Der Schneewall am Rand und die dunklen Baumstämme boten mögliche Verstecke für Feinde.
Sie stellte sich wieder auf die Skier und lief die letzten Meter, vollkommen erfüllt von der Angst vor der Dunkelheit und dem Klopfen ihrer eigenen Herzschläge. Sie schüttelte die Skier ab und eilte zum Auto, während sie verschreckt in alle Richtungen spähte.
Nachdem sie den Motor eingeschaltet hatte, zwang sie sich dazu, eine Minute zu warten, bevor sie losfuhr. Sie war wieder in dem Park, spurtete panisch auf den Ausgang zu, während die lange Jacke sie daran hinderte, große Schritte zu machen. Sie sagte zu sich selbst:
Der Mann hat das Land verlassen. Es ist vorbei. Du darfst so einem Vorfall bei der Arbeit nicht erlauben, dir die Freude am Skilaufen zu verderben.
Als sie wieder in ihrer Wohnung war, sprang sie sofort unter die Dusche. Stand fast zehn Minuten unter dem Strom heißen Wassers und meditierte, dachte, dass dieses Wasser nicht nur ihren Körper wusch, sondern ihn auch von dunklen Gedanken reinigte. Alle Einbildungen und jeder widerliche Verdacht liefen mit dem Seifenwasser durch den Abfluss.
In der Küche fühlte sie sich dann wie frisch erwacht. Sie bereitete sich ihre Lieblingsfrühstücksmischung zu – Joghurt mit Walnüssen und Mango-, Bananen- und Apfelstücken. Die Mango war perfekt gereift, und der Saft lief ihr über die Finger, als sie sie klein schnitt.
Lena setzte sich, aß ihre Frühstücksmischung und las dabei den Text auf dem Joghurtbecher, als das Telefon klingelte. Es war Gunnarstranda.
»Schon Dagens Næringsliv gelesen?«
Lena, den Hörer am Ohr, wollte sich gerade einen vollen Löffel in den Mund schieben. Der Löffel zitterte in der Luft. »Nein«, sagte sie und erwartete das Schlimmste.
»Dann hör mal zu«, sagte Gunnarstranda. »Ich lese von der ersten Seite: TERRORGRUPPE UNTERWANDERT DEN ÖLFONDS. Der Kurztext lautet wie folgt: Es gibt viele, die die Beschlüsse der Verwalter von Norwegens größtem Vermögen beeinflussen wollen. Einige geben dies offen zu, andere agieren durch die Hintertür. DN kann heute berichten, dass eine afrikanische Terrorgruppe enge Verbindungen zu Mitgliedern des Finanzkomitees des Parlaments und Angestellten des Staatlichen Rentenfonds unterhält.«
Lena legte ihren Löffel ab. In ihrem Kopf rauschte es, als sie die Frage formulierte, die ihr den Appetit verdorben hatte.
»Wer ist der verantwortliche Journalist?«
»Ein Mann namens Gjerstad«, sagte Gunnarstranda, »Steffen Gjerstad. Aber der Knackpunkt kommt erst noch.«
Lena hörte jedes Wort mit Widerhall und Echo. Sie schob ihren Teller von sich.
»Es handelt sich um eine Fotoreportage«, sagte Gunnarstranda. »Ich sitze gerade hier und betrachte Fotos von Sveinung Adeler und Aud Helen Vestgård auf der Straße in Oslo. Die beiden unterhalten sich mit einem unbekannten Dritten, von dem der Artikel behauptet, dass er in Stockholm wohnt und der politischen Bewegung Polisario angehört. Das ist eine Bewegung, die für die Selbständigkeit Westsaharas
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