Die Komplizin - Roman
an die Vase erinnern kannst. Weil du sie nämlich gesehen hast, als du mit Hayden dort warst, oder vielleicht schon bei früheren Besuchen in der Wohnung. Ich weiß aber auch, warum du sie nicht auf die Liste gesetzt hast: entweder, weil du ein schlechtes
Gedächtnis hast oder aber – was ich für wahrscheinlicher halte – weil sie nicht da war. Verstehst du jetzt?«
»Nein«, erwiderte ich. Alles in mir wehrte sich dagegen. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten oder mich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt. »Nein.«
»Begreifst du denn nicht?« Seine Stimme klang ruhig und geduldig, als versuchte er einem besonders begriffsstutzigen Kind etwas zu erklären. »Du hast die Vase an dem Abend nicht gesehen. Ich schon. Und Sonia hat sie auch gesehen. Beim ersten Mal.«
Ich hörte Neals Worte, aber für mich ergaben sie nur zum Teil einen Sinn.
»Was soll das heißen, beim ersten Mal?«, fragte ich.
»Als sie das erste Mal in der Wohnung war«, antwortete Neal. »Am selben Abend, nur etwas früher. Als sie Hayden getötet hat.«
Davor
Hayden und ich machten oft den Tag zur Nacht, indem wir die Vorhänge zuzogen oder die Jalousien herunterließen, uns dann die Bettdecke über den Kopf zogen, um in unsere eigene Welt des Zwielichts abzutauchen und einander zu erforschen, während draußen die Sonne schien und in der Platane neben dem Fenster die Vögel sangen. Manchmal verschmolzen die Nächte auch regelrecht mit den Tagen, und alle Grenzen lösten sich auf, weil Hayden nicht dem Rhythmus der meisten anderen Menschen folgte. Im Grunde gab es in seinem Leben nichts, was auch nur ansatzweise Ähnlichkeit mit so etwas wie einer Struktur aufwies. Er besaß keine einzige Uhr, nicht einmal eine Armbanduhr. Natürlich zeigte sein Handy die Uhrzeit an, doch auch da sah er nur ganz selten nach. Er aß, wann immer ihm danach zumute war, er schlief,
wenn er müde war, und es fiel ihm schwer, Verabredungen einzuhalten. Das galt auch für die Treffen unserer Band. Dass er trotzdem relativ häufig zu den Proben erschien, hatten wir nur der Tatsache zu verdanken, dass ich viel Zeit mit ihm verbrachte und ihn dazu nötigte. Grundsätzlich aber empfand er den Wechsel zwischen Tag und Nacht, zwischen Dunkelheit und Licht – wie überhaupt das Verstreichen der Zeit an sich – als einen einzigen großen Fluss, von dem er sich dahintreiben ließ. Manchmal dümpelte er im seichten Randbereich vor sich hin, manchmal riss es ihn in die rasch dahinfließende Mitte, und manchmal folgte er gemächlich einer langsamen Strömung. Niemals jedoch unternahm er von sich aus irgendwelche Anstrengungen, um voranzukommen. Mal schlief er zwei Stunden, mal sieben oder fünfzehn. An manchen Tagen nahm er nur eine einzige Mahlzeit zu sich, an anderen aß er fünfmal am Tag – soweit solche Zeiteinteilungen für ihn überhaupt existierten. Oft trank er schon um elf Uhr vormittags Wein, verspeiste dafür aber mitten in der Nacht eine Portion Frühstücksmüsli. Mal machte er gar keine Pläne, mal verabredete er sich mit drei verschiedenen Leuten gleichzeitig.
Nachdem er an dem betreffenden Abend seinen Heulkrampf überstanden hatte, verschlang er meinen Seebarsch (leicht angebrannt) mit Reis (zu lange gekocht und daher klebrig), als wäre er schon fast am Verhungern gewesen, und spülte das Ganze mit kaltem Tee und lauwarmem Wein hinunter. Dann sagte er: »Lass uns einen Spaziergang machen.«
»Es ist fast zwei Uhr morgens. Ich bin hundemüde.«
»Ich muss ein bisschen überschüssige Energie loswerden. Außerdem ist es noch so warm wie am Tag. Und wir haben fast Vollmond – schau!«
»Wo willst du denn hin?«
»Keine Ahnung, wohin unsere Füße uns tragen. Nun komm schon.«
»Da muss ich mich aber erst umziehen.«
»Nein, zieh einfach deine Schuhe an.«
»Ich hole schnell meine Tasche.«
»Lass sie da.«
Wir wanderten durch Camden und dann am Regent’s Park vorbei nach Bloomsbury. Auf den Straßen fuhren noch ein paar Autos, und vereinzelt begegneten uns sogar Fußgänger. London ist nie ganz leer, nie ganz still oder dunkel, aber als wir über die Waterloo Bridge liefen, schien es, als wären wir die einzigen Menschen, die in dieser riesigen Stadt noch unterwegs waren. Der Mond schien auf den Fluss, und wir hörten die kleinen Wellen ans Ufer klatschen. Die Uhr von Big Ben zeigte vier. Hayden ging schnell und ohne zu reden. Er wirkte plötzlich sehr jung und so zielstrebig, als steuerte er auf einen ganz
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