Die Komplizin - Roman
konzentrieren versuchte, umso weiter schien der Raum in die Ferne zu rücken.
Ich schaute mich um. Die Situation erinnerte mich an eine
Prüfung, die ich mit siebzehn Jahren abgelegt hatte. Verstohlen hatte ich mich im Saal umgesehen, wo all die Leute um mich herum viel mehr zu schreiben schienen als ich und auch einen konzentrierteren Eindruck machten. Jetzt war es wieder so. Neal schrieb ruhig vor sich hin. Obwohl ich seine Schrift nicht lesen konnte, bestand kein Zweifel daran, dass seine Liste um einiges länger werden würde als meine. Die von Sonia ebenfalls. Wie ich schon vermutet hatte, verstand sie sich auf so etwas wesentlich besser als ich. Wobei es im Grunde keine Rolle spielte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dabei irgendetwas Brauchbares herauskäme. Aber das war auch gar nicht der Punkt. Letztendlich ging es bei der ganzen Aktion doch nur darum, dass wir hinsichtlich der Dinge, die wir getan hatten, alle wieder ein besseres Gefühl bekamen. Wir klebten sozusagen ein Pflaster auf eine klaffende Wunde.
Ich hatte zu schreiben aufgehört. Auch das erinnerte mich an eine Prüfung: die schrecklichen letzten Minuten, wenn ich nichts mehr zu sagen hatte und nur noch auf die Uhr starrte, weil ich wollte, dass das Ganze endlich vorüber war.
»Seid ihr fertig?«, fragte ich. »Mir fällt nichts mehr ein.«
»Moment noch«, antwortete Neal, der immer noch energisch vor sich hin kritzelte.
Ich warf einen Blick zu Sonia hinüber, die inzwischen ebenfalls den Stift beiseite gelegt hatte.
»Darf ich mal sehen?«, fragte ich, woraufhin sie mir wortlos ihr Blatt reichte.
Natürlich war sie wesentlich erfolgreicher gewesen als ich. Auf ihrer Liste standen beispielsweise auch das Telefon und die Schale mit den Schlüsseln, was in meinen Augen aber nicht wirklich zählte. Schließlich gab es in jeder Wohnung ein Telefon und eine Schale mit Schlüsseln, oder etwa nicht? Außerdem erwähnte sie den Gitarrenkoffer. Und den kleinen Messingbuddha, den ich ebenso vergessen hatte wie die grüne
Flasche und den Laptop. Dasselbe galt für zwei Skulpturen, an die ich mich erst jetzt erinnerte, als ich sie auf Sonias Liste entdeckte. Und die Post auf dem Boden. Sonia war wirklich erstaunlich. Während ich überflog, was sie alles aufgelistet hatte, begann der Raum vor meinem geistigen Auge tatsächlich wieder Gestalt anzunehmen.
»Fertig«, verkündete Neal.
»Und jetzt?«
»Jetzt gehen wir die Listen gemeinsam durch, und ihr müsst versuchen, euch ins Gedächtnis zu rufen, wo sich die einzelnen Gegenstände befanden, als ihr eingetroffen seid, und welche davon ihr bewegt habt. Auf diese Weise können wir rekonstruieren, wie der Raum aussah, als ihr ihn betreten und die Leiche gefunden habt. Lasst mich mal einen Blick auf eure Werke werfen.«
Ich reichte Neal die beiden Blätter. Während er sie studierte, ließ er den Finger Zeile für Zeile nach unten gleiten. Wie ein kleines Kind, das gerade erst lesen gelernt hat.
»Lieber Himmel«, sagte er, »Sonia kann das ja Welten besser als du.«
»Mir war nicht klar, dass das ein Wettbewerb sein sollte«, bemerkte ich.
Neal hielt unsere beiden Listen nebeneinander und sah sie sich noch einmal ganz genau an, erst die eine und dann die andere. Anschließend legte er sie wieder auf den Tisch, lehnte sich zurück und starrte zur Decke empor, wobei er seinen Stuhl langsam ein Stück nach hinten und dann nach vorne kippte. Einen Augenblick befürchtete ich, er könnte umfallen und sich wehtun. Nach einer Weile aber stellte er den Stuhl mit einem Knall wieder gerade.
»Ich weiß gar nicht, warum wir das überhaupt machen.«
»Es war deine Idee.«
»Eine Schnapsidee.«
Davor
Hayden weinte in meinen Armen wie ein Baby. Er weinte genauso, wie er auch Sex hatte oder aß oder lachte – mit einer Hemmungslosigkeit und Unbefangenheit, die mich jedes Mal von Neuem erstaunte und rührte. Während ich ihn an mich drückte, spürte ich, wie der Kummer seinen ganzen Körper zum Beben brachte. Nachdem er eine ganze Weile heftig geschluchzt und gestöhnt hatte, beruhigte er sich langsam, bis er schließlich still und schwer wie ein Toter in meinen Armen lag. Ich streichelte sein feuchtes Haar und beugte mich hinunter, um ihm einen Kuss auf die Schulter zu drücken.
»Möchtest du darüber reden?«, fragte ich.
Er setzte sich auf und wischte sich mit dem Saum meines Shirts die Tränen von den Wagen.
»Nun geht es mir schon viel besser«, erklärte er, als
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