Die Komplizin - Roman
eingetrocknete Stifte, CDs, die ich mir nie anhörte, Lebensmittel, die ich nie verwenden würde, Fotos, die ich mir nicht mehr ansah, Briefe aus Zeiten, an die ich mich nicht erinnern wollte. Als Nächstes zog ich los und besorgte mir mehrere Kübel Farbe. Mir war selbst nicht ganz klar, ob es sich bei meiner neuen Energie um Euphorie oder Wut handelte. Ich spielte mit dem Gedanken, mir eine Tätowierung machen zu lassen, vielleicht ein ganz kleines Motiv auf der Schulter, doch leider hatte ich zu große Angst vor Nadeln. Dann klingelte das Telefon, und Neal war am Apparat. Er klang überhaupt nicht vorwurfsvoll, sondern sagte nur, ich solle doch bitte, bitte zu ihm kommen. Ich stellte mir sein schönes Gesicht vor: seine weit auseinanderstehenden Augen und die Art, wie er lächelte, wenn er mich sah.
»Also gut«, sagte ich, »dann mache ich mich gleich auf den Weg.«
Bereits in der Diele küsste er mich zuerst auf den Hals und dann auf den Mund. Im Wohnzimmer zog er mir die Schuhe aus, wobei er behutsam die Bänder löste und die Schuhe ordentlich nebeneinanderstellte. Als er mich anschließend die Treppe hinaufführte, spürte ich seine warmen Finger an meinem Rücken. Im Schlafzimmer knöpfte er mir die Bluse auf
und umfasste dann mit einer Hand mein Kinn, so dass ich den Blick nicht abwenden konnte, als er flüsterte: »Warum habe ich nicht schon damals vor all den Jahren gesehen, wie wundervoll du bist?«
Doch während er mich aufs Bett legte, stieß ich hervor: »Neal, ich muss dir etwas sagen.«
»Was denn?«
»Du darfst dich nicht zu sehr auf mich einlassen.« Haydens Stimme hallte in meinen Ohren wider. »Wirklich nicht.«
»Ganz wie du meinst.« Neal hielt meine Worte für einen Scherz, und ich war selbst nicht ganz sicher, ob er damit recht hatte oder nicht. Sein eindringlicher Blick und seine leidenschaftlichen Berührungen vernebelten mir das Gehirn, so dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn. Aus seiner Kehle drang ein Stöhnen.
Als ich am frühen Morgen erwachte, fiel durch das offene Fenster ein warmes, goldenes Licht in den Raum. Ich drehte mich um und betrachtete den schlafenden Neal, dessen Lippen sich bei jedem tiefen Atemzug leicht blähten. Während ich ihm sanft eine Hand auf die Hüfte legte, sagte ich mir, dass ich Hayden ganz schnell vergessen würde – so wie er mich bereits vergessen hatte. Das mit uns beiden war ein bizarrer, aber bedeutungsloser Fehltritt gewesen, ein Schritt in eine falsche Richtung, den ich rasch korrigiert hatte. Niemand brauchte jemals davon zu erfahren.
Danach
Ich schreckte aus dem Schlaf und lag eine Weile wie erstarrt im Bett. Meine Haut war schweißnass, mein Herz raste. Ich versuchte die Erinnerung an den Traum rasch abzuschütteln,
doch er hatte von Hayden gehandelt: seinem Gesicht, das mit aufgerissenem Mund und offenen Augen unter Wasser glitt. Schaudernd setzte ich mich auf und atmete tief ein und aus, bis der Schweiß auf meiner Stirn getrocknet war und meine Haut sich kalt und klamm anfühlte. Was hatte ich getan? Was hatte ich nur getan? Ich kroch im Dunkeln aus dem Bett und schaffte es bis ins Badezimmer, wo ich mich in die Toilettenschüssel übergab. Hinterher wusch ich mir das Gesicht, putzte mir die Zähne und legte mich wieder hin, um auf den Morgen zu warten.
Als es an der Tür klingelte, sprang ich schlaftrunken aus dem Bett, zog rasch einen Bademantel über T-Shirt und Slip und stürmte hinunter zum Eingang.
»Bonnie Graham?«
»Ja.«
»Eine Eilzustellung für Sie.«
Ich unterschrieb das Formular, das mir der Mann auf einem Klemmbrett hinhielt. Anschließend reichte er mir ein braunes, in Packpapier gehülltes Päckchen, auf dem in fetten Lettern mein Name stand. Ich spürte, wie der Inhalt unter meinen Fingern ein wenig nachgab.
Oben in meiner Wohnung legte ich das Päckchen erst mal auf den Tisch und brühte mir eine Tasse Tee. Erst dann stellte ich fest, dass ich keine Milch mehr hatte. Ich nahm trotzdem einen Schluck, ehe ich mich ans Auspacken machte. Nachdem ich einen Teil der Verpackung weggerissen hatte, erstarrte ich. Was konnte das sein? Wie gelähmt stierte ich auf das Päckchen. Dann holte ich tief Luft und entfernte den Rest des Papiers. Da war er: mein Ranzen. Der Ranzen, den ich in Lizas Wohnung so verzweifelt gesucht hatte, weil ich sicher war, dass er dort sein musste. Nervös leckte ich mir über die trockenen Lippen, ehe ich die Hand nach ihm
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