Die Komplizin - Roman
paar Meter bis zur Haustür.
Da ich nicht wusste, ob der junge Mann aus dem ersten Stock zu Hause war oder nicht, schob ich den Schlüssel ganz vorsichtig ins Schloss, drehte ihn behutsam herum und versuchte möglichst kein Geräusch zu machen, während ich die Tür aufschob und in den Flur trat. Alles war still, kein Mensch zu sehen. Ich musste daran denken, dass gestern um diese Zeit noch gar nichts passiert war. Zwölf Stunden später aber hatten Sonia und ich Haydens Leiche in die dunklen Fluten des Stausees gleiten lassen und zugesehen, wie das Wasser ihn verschluckte. Ich nahm ein paar Handschuhe aus dem Päckchen und zog sie mir mit einem schnalzenden Geräusch über.
Als ich die Tür zu Lizas Wohnung aufstieß, ächzte sie so laut, dass ich vor Schreck zusammenzuckte. Rasch trat ich ein und zog die Tür langsam hinter mir zu. Für einen Moment rechnete ich damit, ihn wieder dort liegen zu sehen, mit seltsam abgespreizten Armen und einer dunklen Blutlache unter dem Kopf. Aber da war nur ein leerer Fleck, ein großes Nichts. Er war weg.
Die Vorstellung, ich könnte etwas vergessen haben, ließ mir schon den ganzen Nachmittag keine Ruhe: Hatte ich den Schal auch wirklich mitgenommen? (Natürlich – ich hatte ihn mir ja am Flughafen um den Kopf gebunden.) Hatte ich an die Hank-Williams-CD gedacht? Eigentlich war ich mir sicher, dass ich sie eingepackt hatte, aber was, wenn nicht? Hatte ich die Türgriffe richtig abgewischt? Was hatte ich vergessen, welches Detail übersehen? Vor allem aber, wo war mein Ranzen? Warum hatte ich ihn nicht gefunden? Vielleicht war ich in meiner Panik nicht gründlich genug gewesen. Eine andere Erklärung gab es nicht. Der Ranzen musste hier irgendwo stecken, unter dem Bett oder ganz hinten in einem Schrank, und ich musste ihn finden, bevor jemand anderer es tat. Trotzdem konnte ich mich ganz genau daran erinnern, wie ich ihn, ohne weiter nachzudenken, auf dem Boden neben dem Sofa abgestellt hatte. Ich sah ihn richtig vor mir.
Sonia und ich hatten am Vorabend unsere Fingerabdrücke weggewischt. Warum hatten wir das getan? Ein weiterer Akt paranoider Dummheit. Sollte die Wohnung jemals auf Fingerabdrücke untersucht werden, dann würde es ausgesprochen verdächtig wirken, wenn sich nicht überall welche von mir fanden. Schließlich hatte ich als Lizas Freundin viele Stunden in dieser Wohnung verbracht und darüber hinaus während der ersten paar Tage ihres Urlaubs die Pflanzen gegossen und die Post gestapelt. Deswegen eilte ich nun hektisch in der Wohnung herum und platzierte meine Hände auf Regalfächern, Stuhllehnen und dem kleinen Tisch. Obwohl mir durchaus
bewusst war, dass ich es dadurch nicht besser machte, konnte ich einfach nicht aufhören.
Schließlich blickte ich mich um. Wir hatten zwar die umgefallenen Tulpen entsorgt und den Stuhl wieder aufgestellt, doch die Post lag immer noch über den Teppich verstreut. Ich sammelte alles ein und sortierte es auf dem Tisch zu einem ordentlichen Stapel. Haydens geliebte Gitarre lag ebenfalls noch auf dem Boden. Nachdem ich sie aufgehoben hatte, wiegte ich ihren eingeschlagenen Korpus einen Augenblick wie ein Kind in den Armen. Ich musste daran denken, wie Hayden immer ausgesehen hatte, wenn er sie spielte: zugleich verträumt und verzückt, völlig eins mit der Musik. Vielleicht, so dachte ich, war das sein wahres Gesicht gewesen – nicht charmant oder prahlerisch und auch nicht zornig, verächtlich oder kritisch, sondern auf eine friedliche Weise selbstvergessen, als wäre er versunken in eine Welt, in der er weder etwas beweisen musste noch etwas zu verlieren hatte.
Nachdem ich die Gitarre in ihrem Koffer verstaut hatte, hielt ich erneut Ausschau nach meinem Ranzen. Obwohl ich bereits überall nachgesehen hatte, suchte ich noch einmal alles ab – auch Orte, von denen ich schon vorher wusste, dass ich dort nicht fündig werden würde, zum Beispiel unter dem Bettzeug (wobei ich es mir nicht verkneifen konnte, kurz den Kopf auf das Kissen zu legen und seinen Duft einzuatmen), in dem Badezimmerschrank, der den Boiler beherbergte, und unter dem Waschbecken, wo Liza ihr Putzzeug aufbewahrte. Natürlich hatten Sonia und ich sämtliche Möglichkeiten bereits am Vortag abgehakt, als wir versuchten, all unsere Spuren zu beseitigen. Der Ranzen war wie vom Erdboden verschluckt. Ratlos setzte ich mich aufs Sofa und ließ den Kopf in meine schweißnassen Hände sinken. Was nun?
Ich durfte mich hier nicht mehr blicken lassen.
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