Die Komplizin - Roman
mag ja sein, Sally, aber deswegen braucht man doch nicht gleich die Polizei zu verständigen. Wir haben in seiner Wohnung nachgesehen. Wahrscheinlich ist er einfach nur weitergezogen.«
»Nun ist es schon passiert. Ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Kommst du mit?«
Mir fiel keine plausible Ausrede ein. Vielleicht war es sogar ratsam, sie zu begleiten und mir anzuhören, was sie zu sagen hatte. Im Anschluss an unser Gespräch versuchte ich krampfhaft, einen klaren Kopf zu bekommen, doch mein Gehirn fühlte sich an wie ein durchdrehender Reifen, der sich immer tiefer in schlammigen Boden hineingrub. Sally hatte sich an die Polizei gewandt. Was bedeutete das? Würden sie nun wegen Haydens Verschwinden ermitteln oder Sallys Bedenken als die Hysterie einer verliebten Frau abtun? Würden sie Leute befragen? Womöglich auch uns? Mich? Was sollte ich dann sagen? Würden sie die Wohnung auf Spuren untersuchen? Wenn ich es schon geschafft hatte, meine Jacke dort einfach über einer Stuhllehne hängen zu lassen, was hatte ich dann noch alles vergessen oder übersehen? Welche anderen Fehler waren mir unterlaufen? Was war mit meinen Fingerabdrücken? Ob Hayden wohl jemandem von uns erzählt hatte? Ich war der Meinung gewesen, alle Spuren verwischt zu haben, doch nun begriff ich plötzlich, wie illusorisch das war. Bestimmt würden Hinweise auftauchen, von denen ich überhaupt keine Vorstellung hatte. Bereits ein einzelnes Haar konnte einen Täter überführen. Meine Haare waren auf seinem Kopfkissen, mein Schweiß auf seinem Laken, meine Fingerabdrücke auf seinen Tassen und Gläsern, mein Bild auf irgendeiner Überwachungskamera. Vielleicht war sogar irgendein Objektiv auf uns gerichtet gewesen, als wir Haydens Leiche in das dunkle Wasser des Stausees gleiten ließen. Irgendjemand sieht einen immer. Ich würde in einer Reihe von Leuten stehen, und jemand, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, würde mit dem
Finger auf mich deuten und sagen: »Die da. Das ist sie. Ja, ohne jeden Zweifel.«
Ich ermahnte mich, ruhig zu bleiben. Was gab es überhaupt zu entdecken? Solange Sonia dichthielt, deutete nichts auf mich hin. Aber konnte ich Sonia vertrauen? Natürlich, sie war doch meine Freundin. Außerdem würde sie sowieso nichts ausplaudern, weil sie dadurch ja nicht nur mich, sondern auch sich selbst belasten würde. Viel bedenklicher war jedoch, dass noch jemand etwas wusste. Die betreffende Person musste etwas wissen, denn warum sonst hatte sie mir meinen Ranzen zugeschickt? Den Ranzen mit all den Sachen, die ich in der Wohnung zurückgelassen hatte, plus die Kette, die Sally gehörte. Was bedeutete das? Irgendetwas ging da vor, und ich hatte keine Ahnung, was. Überall warteten Fallen auf mich, und hinter jeder Ecke, hinter jeder Tür konnte eine böse Überraschung lauern.
Ich schlüpfte in Jeansshorts und ein gestreiftes Top. Damit sah ich androgyn und unentwickelt aus, wie ein Junge kurz vor der Pubertät oder eine von den Stoffpuppen mit Flachshaar und weichen, biegsamen Beinen. Ich betrachtete mich im Spiegel. Was hatte Hayden gesehen, als er mich so eindringlich anstarrte? Wen hatte er gesehen? Warum hatte er mich so sehr begehrt?
Nachdem ich zwei Tassen schwarzen Kaffee getrunken und eine Schale mit Cornflakes gefüllt hatte, musste ich feststellen, dass die Milch sauer geworden war. Ich empfand plötzlich einen richtigen Heißhunger, hatte jedoch außer einer Dose Mais nichts Essbares mehr im Schrank. Also öffnete ich die Dose und aß ein paar große Löffel voll, auch wenn es sich dabei um kein sehr befriedigendes Frühstück handelte. Außerdem war mir trotz meines heftigen Hungergefühls irgendwie schlecht.
Als Sally schließlich bei mir eintraf, war sie gekleidet wie für ein Vorstellungsgespräch: Sie trug eine schwarze Hose, die
ihr etwas zu eng war, einen schwarzen Blazer und eine weiße Bluse. Das Haar hatte sie sich hochgesteckt, und an ihren Ohrläppchen funkelten goldene Stecker.
»Du siehst schick aus.«
Sie zog eine Grimasse. »Du hältst mich bestimmt für eine Idiotin.«
»Überhaupt nicht. Komm rein. Ich kann dir leider nur schwarzen Kaffee oder Tee anbieten, Letzteren ebenfalls ohne Milch.«
»Dann bitte Kaffee.«
Nachdem wir uns an meinem kleinen Tisch niedergelassen hatten, fing sie an, etwas von einer schlaflosen Nacht zu stammeln, brach dann aber abrupt ab und sah mich mit Tränen in den Augen an.«
»Das Ganze ist eine einzige Farce. Du weißt Bescheid, oder?«
»Worüber?«
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