Die Konkubine
ein kleiner Vogel, eine Musik, die das Herz streichelte. Mulan hörte einen Moment lang zu, um die passenden Harmonien zur Tonlage der Trompete zu finden, dann brachte sie die Saiten ihres Instrumentes zum Schwingen. Die rieselnden Akkordfolgen der Guzheng untermalten den klaren Trompetenklang. Meili improvisierte zunächst vorsichtig eine zweite Stimme, tastete sich an die fremde Melodie heran. Sie musste sich erst einfinden. Dann wurde sie sicherer und ergänzte sein Lied mit ihrem. Die Harmonien liefen auseinander, kamen wieder zusammen, wurden für wenige Augenblicke zu einer Melodie, um gleich darauf wieder auseinanderzustreben. Mulan kannte das Lied nicht, das er spielte. Sie hörte nur den Klang seiner Trompete, ließ sich von ihm leiten, antwortete auf die Fragen der Musik und ihr Werben. Ihre Guzheng lachte gemeinsam mit seiner Trompete und weinte mit ihr. Sie spielte wie in Trance. Die Töne lösten sich wie von selbst, waren nichts als klingendes Denken und Empfinden. Sie vergaß sich selbst und wieder doch nicht. Sie war sie selbst und wieder doch nicht.
Plötzlich begriff sie, was da geschah. Alles hatte sie erwartet, nur das nicht. Es war wie ein Schock. Das Lied dieses Mannes berührte Saiten in ihr, die sie sorgsam verschlossen, mit aller Kraft im Dunkeln gehalten hatte. Als wolle er sie festhalten bis ans Ende von Raum und Zeit. Sie wollte das nicht! Und doch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er es tat. Dass dieser Zustand des Schwebens niemals ein Ende nahm.
Erneut verklang die Musik. Mulan legte die Hände in den Schoß. Sie war völlig durcheinander. Als sie zu Konrad hinüberschaute, erkannte sie, dass er ähnlich empfand. Auch er hatte den Zauber dieser Momente gespürt. Er war ebenso erschöpft wie sie, als wäre – wie bei ihr – alle seine Energie, alle Wärme, alle seine Freude in dieses eine Lied geströmt.
Sie wurden von tosendem Applaus aus ihrer Verwirrung gerissen.
«So tief gefühlt habe ich Beethovens noch nie gehört, das war ein ganz besonderes Erlebnis», schwärmte Richard Wilhelm. Seine Augen leuchteten. «Me, Schätzle, ich glaube, wir haben heute einer unvergesslichen chinesisch-deutschen Begegnung beigewohnt.»
Mulan hatte das Gefühl, als würden Wei Lixians Worte etwas sehr Intimes öffentlich machen, etwas, das nur für zwei Menschen bestimmt gewesen war. Für den Soldaten und für sie. Es war wie ein Schmerz. Chen Meili bemerkte den Gemütszustand ihrer Freundin. «Für Elise? Ja, es ist ein herrliches Stück», erklärte sie in leichtem Plauderton.
«Sie verstehen etwas von deutscher Musik?» Der Tonfall verriet, das Gerda Freimuth das ziemlich unwahrscheinlich fand.
Chen Meili lächelte höflich und fächelte sich Luft zu. «Ich danke unserer ehrenwerten Gastgeberin für diesen wundervollen Nachmittag, doch der Tag neigt sich dem Ende zu, und ich sollte unsere Mulan jetzt wieder in das Haus ihres Gatten bringen. Sie wirkt erschöpft.» Mulan sah sie dankbar an.
«Gatte! Sie ist nichts als eine Mätresse zur linken Hand. Hast du ihren Bauch gesehen…», hörte sie eine der Damen flüstern. Die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. Doch sie schaffte es, ihre Miene unbewegt zu halten.
Der Diener nahm die Guzheng vom Tischchen. Mulan stand auf. Ihre Knie zitterten. Sie hatte Angst, sie würde gleich stürzen. Wieder wurde sie durch Meili gerettet. Die Freundin nahm ihren Arm und führte sie zur Rikscha. Mulan blickte nicht zurück.
Eigentlich hatten sie vorgehabt, während des Heimwegs in der großen Markthalle vorbeizuschauen, sich Stoffe anzusehen, in Süßigkeiten zu wühlen, eben ein wenig einzukaufen. Sie schaute zu Nummer Eins, der sie zu Fuß begleitete. Der Hausdiener missbilligte solche Aktionen von Nebenfrauen zutiefst. Er wollte sich beim Einkauf nicht so gerne in die Karten schauen lassen und fürchtete wohl, Liu Guangsan könne die Höhe seines kleinen Zusatzeinkommens bemängeln. Doch sie wusste, er übertrieb es nicht.
Der Rikschamann nahm den Weg zum Kleinen Hafen. Die Markthalle lag rechts davon, links das chinesische Telegrafenamt. Mulan wollte später am Hafen ein wenig haltmachen. Das würde ihr die Zeit geben, die sie brauchte, um sich zu sammeln. Zum wiederholten Mal spürte sie ein Ziehen im Unterleib und atmete tief ein.
«Was ist los, Mulan?»
«Das Kind, es bewegt sich. Lass uns gleich zum Kleinen Hafen fahren und nicht in die Markthalle gehen, bitte. Dort ist es so stickig und es stinkt. Am Meer herrscht immer
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