Die Konkubine
einer der Heuschrecken zu werden. Der Sieg über China vor einigen Jahren hatte das drastisch genug gezeigt. Und der chinesische Kaiserhof dämmerte unfähig dahin, zahlte Reparationen, trat den Japanern Territorien ab und schob die Verantwortung auf Sündenböcke.
Was nutzte es, die Fremden einfach aus dem Land zu treiben! Das Reich musste sich ändern! Der Erfindergeist der Europäer, der zu ihrer materiellen Überlegenheit geführt hatte, wurzelte tief in ihren kulturellen Werten: Humanismus, Individualismus, der freie Wille des Einzelnen – das hatten Liu und seine Freunde erkannt. Auch politisch hatten Europäer, abgesehen von Russland, ein gewisses Mitspracherecht, selbst in den Monarchien. Zumindest die Bürger der oberen Schichten. Liang Qichao, der seit dem Scheitern der Wuxu-Reform in Japan lebte, dessen brillante Essays dort erschienen, jedoch auch in China gelesen wurden und die Herzen entflammten, hatte in seinem Buch «Neue Geschichtsschreibung» den wunden Punkt getroffen: Die bisherigen offiziellen vierundzwanzig Dynastiegeschichten seien nichts weiter als die Hauschronik von vierundzwanzig Familien. Sie handelten von Dynastien, nicht von einem Staat; von einzelnen Personen, nicht vom Volk.
Liu Guangsan selbst würde die große Veränderung nicht mehr erleben, nicht mehr sehen, wie die marode Qing-Dy- nastie stürzte und ein freies, wettbewerbsfähiges China unter einem liberal gesinnten Kaiser als gleichberechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft aus den Trümmern erstand. Aber er würde bis zu seinem letzten Atemzug daran mitwirken, diesen Wandel möglich zu machen. Jüngere würden das Reformwerk vollenden, darunter sein Sohn Youren.
Er dachte an seinen Kompagnon Tang Liwei. Sie hatten immer wieder über ihre Söhne gesprochen. Tang war verzweifelt, denn sein Sohn Huimin, der große Bruder des Mädchens, das sein Youren heiraten sollte, hing Männern an, die vergiftete Ideen verbreiteten. Er war infiziert von den Reden eines gewissen Sun Yat-sen, eines Kantonesen, der im Ausland aufgewachsen war. Vor sieben Jahren hatte er in Guangdong einen gescheiterten Aufstand angeführt, angeblich mit Unterstützung von Triaden: ein Bandit, ein Rebell! Die Studenten in Yokohama dagegen folgten meist Kang Youwei und damit den gemäßigten Reformern, die eine konstitutionelle Monarchie anstrebten. Wie es hieß, trugen die beiden Gruppen erbitterte Debatten in ihren Zeitschriften aus. Doch zwischen Kang, der ebenfalls aus Guangdong stammte, und Sun, zwischen dem konfuzianischen Gelehrten und dem ungebildeten Heißsporn, der an einem College in Hongkong studiert hatte und vermutlich besser Englisch als Chinesisch sprach, gab es keine Verständigung!
Hoffentlich hatte Youren sich diese Ideen nicht zu eigen gemacht. China konnte nicht auf einen Kaiser verzichten, das musste doch auch Youren einsehen. Ohne diese Integrationsfigur würde das riesige Reich auseinanderfallen. Er musste endlich offen mit seinem Sohn reden. Youren konnte nicht so dumm sein, diesen Utopien zu glauben, nicht sein Sohn.
Ja, es war damals besser gewesen, ihn fortzuschicken, um in Japan zu studieren, auch wenn dort Ideen kursierten, die er nicht gutheißen konnte. Außerdem war es wichtig, gute Kontakte in die Kreise der Genyosha zu haben. Und dann war da noch etwas gewesen – Liu Guangsan hatte noch immer Mühe, es sich einzugestehen. Youren hatte Mulan nachgestellt. Diese hatte nie etwas davon verlauten lassen. Natürlich nicht. Doch er hatte gesehen, wie Youren sie verstohlen beobachtete, nie aus den Augen ließ, wenn er ihr begegnete, ihr sogar auflauerte. Mulans Benehmen war immer mustergültig gewesen. Sie hatte Youren in seiner Gegenwart den Respekt entgegengebracht, der ihm als Erstgeborener des Hauses Liu zustand. Er hatte die beiden auch heimlich beobachtet. Wenn sie Youren allein begegnet war, verschwand sie sofort in den Gemächern der Frauen. Jetzt war Mulan die Mutter seines zweiten Sohnes, und Youren schien das Interesse an ihr verloren zu haben.
Sein Blick fiel wieder auf seinen Ältesten. Ah, seine Söhne! Sein zweiter Sohn war gerade geboren und viel zu früh in dieses Leben gestürmt. Er war so schwach, der Faden seines Lebens hauchdünn. Doch er kämpfte. Mit jedem Atemzug kämpfte er um sein Leben. Er war ein Krieger, der würdige Sohn seiner Mutter. Sie hatten ihn Tongren genannt. Liu Guangsan lächelte.
Sein erster Sohn lächelte zurück. Etwas erstaunt. Er wusste ja nicht, dass dieses Lächeln des Vaters
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