Die Korallentaucherin
gab.
Christina war in erster Linie verärgert, weil, wie sie es ausdrückte: »… dieser Mann unangekündigt auftauchen musste, als ich noch nicht aufgeräumt und den Tisch abgedeckt hatte. Ich kam mir vor wie eine Idiotin, die von nichts eine Ahnung hat. Als ob deine Zukunft mir egal wäre … obwohl ich doch alles für dich geopfert habe.«
»Mum, bitte. Sie wollen nur helfen. Das Beste für mich herausschlagen. Dir helfen …«
»Ich brauche keine Hilfe. Du hast die Angelegenheiten ja anscheinend selbst in die Hand genommen und badest es selbst aus, Jennifer. Du weißt, dass ich es mir nicht leisten kann, dich aus irgendwelchen Schwierigkeiten freizukaufen.«
»Was für Schwierigkeiten, Mum? Ich lasse mich auf nichts ein, was ich nicht bewältigen kann. Ich muss nur mein Geld zusammenhalten und darf nicht übermütig werden. Wenn ich mich eingelebt habe und weiß, wie viel Zeit ich für die Arbeit brauche, kann ich mir vielleicht einen Job suchen und zusätzlich etwas Geld verdienen.«
»Du hast dir alles schon genau überlegt, wie?« Sie hielt inne. »Und falls, wirklich nur falls, du tatsächlich auf diese tolle Uni in Sydney gehst, hast du sicher vor, Vi und Don zu besuchen? Stecken sie mit dir unter einer Decke?«
»Mum, da gibt es keinerlei Geheimnisse. Ich habe noch nicht mit ihnen darüber gesprochen. Für den Fall, dass es nicht klappt.« Jennifer wandte den Blick ab, verärgert über den flüchtigen Ausdruck von Befriedigung auf dem Gesicht ihrer Mutter.
»Nun, dann brüten wir lieber nicht über ungelegte Eier.«
Ihre Mutter setzte sich an den Küchentisch und sah zu, wie Jennifer eine kleine Schachtel Eiskrem aus dem Gefrierfach nahm. Christina zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch langsam zur Decke hinauf. Als Jennifer hohe Gläser mit schäumendem Milchshake auf den Tisch stellte, strich Christina über ihre Hand. »Strebe nicht zu hoch hinaus und erhoffe dir nicht Dinge, die unsereinem nicht zustehen, Jennifer. Hier in der Umgebung hast du so viele Möglichkeiten.«
Jennifer antwortete nicht. Doch innerlich schrie sie:
Warum stehen uns die guten Dinge des Lebens nicht zu? Warum soll ich mir meine Ziele nicht so hochstecken, wie ich nur kann?
Ihre Mutter war wieder heiter und überlegen. Jennifers Verirrung in die Vorstellung, in Sydney die Universität zu besuchen, würde sich von selbst erledigen.
Jennifer wusch die Gläser ab und ging in ihr Zimmer. Wenn sie doch jemanden hätte, dem sie sich anvertrauen, den sie um Rat fragen könnte, jemanden, der keine anderen Absichten hegte, als sie auf den richtigen Weg zu führen. Sie zog ihre Schuluniform aus. Vielleicht hatte ihre Mutter recht, und man war auf der Welt tatsächlich völlig auf sich allein gestellt und musste sein Leben selbst in die Hand nehmen. Sie musterte sich im Spiegel und sah ein junges Mädchen auf der Schwelle zur Frau: zarte helle Haut, Rundungen, die noch voller werden mussten, glänzendes goldblondes Haar, das sie selbst schnitt, klare blaue Augen und einen Mund, der weich und traurig wirkte. Ich will nicht allein sein, dachte sie.
Wie ihr der Vater und der große Bruder fehlten. Im ganzen Haus gab es keine Fotos von ihnen, doch sie wusste von dem Fotoalbum ihrer Mutter, ganz zuunterst in einer Schublade in ihrem Schlafzimmer. Jennifer schloss die Augen und dachte an einen lachenden Jungen, der ihre Hand hielt, ihr das Haar zerzauste und ihr im Flüsterton Geschichten erzählte, wenn sie sich zu ihm ins Bett schlich.
Manchmal zuckten Szenen von jenem Tag am Strand, von ihrer Mutter in der Küche, wie sie auf ihren Vater eindrosch, in ihrem Bewusstsein auf, doch sie verdrängte sie. Es hatte eine Weile gedauert, doch schließlich hatte sie gelernt, ihr Bewusstsein zu verschließen, wenn diese unerwünschten Bilder vor ihrem inneren Auge auftauchten. Dann stellte sie sich rasch einen schwarzen Nachthimmel vor. Blieben immer noch kleine Erinnerungsfetzen, so ersetzte sie diese durch Momentaufnahmen, die sie glücklich machten – bunte Fische in rosafarbenem Seetang, die weiche silbrige Haut eines Gummibaums unter der sich schälenden Rinde, ein Schmetterling auf einem Blatt, im Begriff, ins Sonnenlicht davonzuflattern. Dann öffnete sie die Augen wieder und kehrte seufzend in die Realität zurück.
Jennifer saß auf einer warmen Holzbank am Rand des Innenhofs der Universität und schaute den Studenten zu, die auf dem Rasen umherschlenderten oder saßen. Träge fragte sie sich, wer außer ihr
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