Die Korallentaucherin
wohl schon auf dieser alten Bank gesessen und die steinernen Bogengänge und die im Sonnenlicht blitzenden Fenster betrachtet hatte. Sosehr sie ihre Seminare an der Universität und die Freiheit, sich selbst überlassen zu sein, auch liebte, hatte sie nach ihrem ersten halben Jahr an der Universität von Sydney doch noch immer das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Die Überzeugung ihrer Mutter, dass sie ihre Grenzen übertreten hätte, hatte irgendwo tief in ihrem Inneren Wurzeln geschlagen. Das wirkte sich auf alles aus, was sie in diesem neuen Leben angriff. Nie hatte sie das Gefühl, richtig gekleidet zu sein, kannte nicht dieselben Örtlichkeiten und Leute und Modetrends wie die anderen Studenten. Sie glaubte, ihr Bestes geben und gute Noten erzielen zu müssen, etwas beweisen zu müssen, und zwar nicht nur sich selbst, sondern auch ihrer Mutter. Das schlechte Gewissen, weil ihre Mutter allein in einer Kleinstadt in Victoria lebte, war ihr ständiger Begleiter, obwohl sie wusste, das Freunde und Nachbarn sie besuchten und Christina einluden, sowohl um Jennifers als auch um Christinas willen.
Jennifers gesellschaftliches Leben verlief ereignislos. Manchmal schloss sie sich einer Gruppe von Freunden von der Uni an, die Cafés und Bars in der Nähe besuchten. Jeden zweiten Sonntag war sie zum Mittagessen bei Onkel Don und Tante Vi eingeladen, und sie genoss die Besuche bei ihnen. Manchmal unternahmen sie nachmittags einen Ausflug oder gingen ins Kino. Dann verbrachte sie die Nacht in dem Gästezimmer im Erdgeschoss, das groß und gemütlich war. Eine Schiebetür führte auf eine kleine Terrasse und in den schmucken Garten, in dem Onkel Don Vögel züchtete.
Das kompakte Backsteinhaus war fast identisch mit dem benachbarten, und wenn der vorstädtische Lebensstil auch recht angenehm war, konnte er Jennifer doch nicht interessieren. Wenn sie schon das weite offene Land nicht haben konnte, dann zog sie das sprühende Leben in der Innenstadt vor. Besonders wegen der tatkräftigen Studenten und interessanten Gestalten, die das Universitätsgelände bevölkerten.
Von Vis und Dons Haus bis zu ihrer Unterkunft auf dem Campus musste sie mit dem Zug fahren und dann ein Stück zu Fuß gehen oder eine lange Busfahrt auf sich nehmen. Deshalb beschloss Jennifer, am Montagmorgen früh aufzustehen und abzureisen, statt bei Nacht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Ihre Tante und ihr Onkel wollten, dass sie das Gästezimmer als ihr eigenes betrachtete und einen Teil ihrer Habseligkeiten dort aufbewahrte, doch das widerstrebte ihr. Sie genoss den Kontakt zu den Verwandten und wusste, dass ihre Besuche, die angefüllt waren mit Geschichten über ihr Leben an der Uni, ihnen große Freude bereiteten. Allerdings stellte Jennifer fest, dass sie die Besuche herunterspielen musste, wenn sie mit ihrer Mutter sprach. Christinas Abneigung – oder war es schlicht Neid? – knisterte in der Telefonleitung.
»Und worüber habt ihr geredet? Muss schön für sie sein, all die kleinen Details zu hören, die mir zu erzählen du nicht die Zeit hast. Immerhin bekommst du eine gute Mahlzeit, wenn du sie besuchst. Vermutlich macht Vi immer noch den großen Sonntagsbraten. Du liebe Zeit, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Lamm gegessen habe.« Und so weiter.
Jennifer brachte es nicht über sich, ihr zu sagen, dass Vi nur gelegentlich eine traditionelle Mahlzeit zubereitete. Sie experimentierte mit exotischen Gerichten, und einmal im Monat besuchten sie eines der Restaurants in Sydney: griechische, vietnamesische, libanesische oder chinesische Küche. Sie wusste, dass ihre Mutter nichts von ausländischem Essen hielt. Aber schlimmer noch war in den Augen ihrer Mutter die Tatsache, dass Jennifer Spaß mit Vi und Don hatte.
Jennifers Lieblingslokal in Uni-Nähe war ein kleines Café mit Namen »Crush«, das sich auf innovative Naturkost und -säfte spezialisiert hatte. Draußen standen Tische mit Sonnenschirmen, drinnen säumten lange Tresen mit Barhockern die Wände, und ein großer Holztisch dominierte den Raum. An diesem saßen viele Leute, und so konnte man gut Bekanntschaften schließen. Eine Auswahl an Zeitungen stand zur Verfügung, ein Schwarzes Brett war gespickt voll mit Ankündigungen von Events, An- und Verkaufsmeldungen, der Suche nach Mitfahrgelegenheiten aus der Stadt und so ziemlich allem, was für die Studentenschaft von Interesse ist.
Jennifer saß gern draußen und gönnte sich einen Milchshake oder
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