Die Korallentaucherin
habe gar nicht mitbekommen, wann du gestern gegangen bist.«
»Ich habe mich leise aus dem Staub gemacht. Ich koche gerade Tee. Magst du welchen? Oder lieber Kaffee?«
»Tee wäre prima. Ich probiere rasch die Dusche aus und ziehe mich an. Bin gleich bei dir.«
Er servierte frisch gepressten Saft, der Tee stand bereit, und der Duft von Toast weckte ihren Hunger.
»Darf ich eine Scheibe Toast schnorren, bitte? Ich komme um vor Hunger, und ich will mich mit Isobel treffen und weiß nicht, wann wir zurückkommen.«
»Ich habe mir einen Toaster ausgeliehen. So früh ist ja noch niemand auf den Beinen, und da ist er ganz praktisch. Ich habe sogar Vegemite vorrätig. Oder möchtest du lieber eine Banane?«
»Kann ich beides haben?« Sie lachte. »Ich habe eine gute Entschuldigung für meine Gefräßigkeit.«
Er musterte ihre schlanke Figur, die gebräunten Beine in Shorts, das weite T-Shirt, das ihren gewölbten Leib nicht verbergen konnte. »Geht es dir gut?«
»Der Arzt sagt, ich bin topfit. Inzwischen habe ich entschieden mehr Energie, Gott sei Dank. Eine Zeitlang habe ich mich doch sehr schlapp gefühlt.«
Oder deprimiert?
»Und das ist gut so, schließlich lasse ich mich auf ein ziemlich großes Projekt ein. Ich habe mir überlegt, dass ich vielleicht deine, Gideons und Isobels Aufzeichnungen lesen sollte, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich stelle mir vor, dass ich die Arbeit in Tagebuchform verfasse. Wie die früheren Forscher und Abenteurer ihre Expeditionen und so beschrieben haben.«
»Klingt gut. Besprich das am besten mit Mac. Und was ist mit deinem Diplomprojekt? Du wirst eine Menge schreiben müssen.«
»Deshalb will ich, solange noch alle hier sind, möglichst viel praktische Arbeit leisten. Wenn Mac einpackt und zum Semesterbeginn zurück zur Uni geht, bin ich weitgehend auf mich selbst gestellt. Und vor mir liegen viele lange Tage, die ich ausfüllen muss.«
Und dann wohne ich wieder mit Blair zusammen.
Der Gedanke deprimierte sie. Nun, bis dahin würden noch Wochen vergehen. »Wie entwickelt sich deine Story für die Zeitschrift?«
»Der erste Artikel handelt von der Gefährdung des Riffs. Es war schockierend, diese traurigen, grauen, leblosen Korallenbänke zu sehen. Ich habe mich ausführlich mit Rudi, Mac und Isobel darüber unterhalten. Genau wie du bleibe ich, solange sie hier sind. Wenn der Hauptteil der Gruppe abreist, fahre ich aufs Festland. Offenbar hat die Wasserverschmutzung von der Küste aus großen Anteil an den Problemen des Riffs.«
»Landwirtschaft und Bauwesen. Es ist ein Drama, was da alles ins Meer eingeleitet wird.«
»Rudi hat Spuren von Industrietoxinen in Pflanzen und Tieren gefunden. Unter anderem. Seine Arbeit ist eine Story für sich.« Tony schenkte Tee nach. »Die verschiedenen Theorien hinsichtlich der Dornenkronenseesterne und der Zukunft des Riffs sind verwirrend. Da muss ich noch gründlich recherchieren.«
»Und, Tony, wie steht’s mit deinen seelischen Belastungen?«, fragte Jennifer. »Du wirkst nicht mehr so … traurig wie vor kurzem, als wir uns unterhalten haben.«
»Das kommt und geht. Die Kriege und Tragödien am anderen Ende der Welt sind in einem Paradies wie diesem hier leichter zu vergessen. In Australien überhaupt.« Er stellte Milch bereit und goss heißes Wasser in die Teekanne, dann sagte er: »Ich finde mich mit den Dingen ab. Das Leben ist nicht immer so, wie man es erwartet.«
Das kannst du laut sagen.
»Ich hasse es, wenn Leute sagen, das Leben ist das, was man daraus macht. Man kann das Schicksal nicht ändern oder so.«
»Mag sein, dass man das Schicksal nicht ändern kann, aber man kann seine Lebensumstände kontrollieren, statt sich von Ereignissen überrollen zu lassen.« Er grinste kläglich. »Ich glaube, ich war ein bisschen wie ein Schiff ohne Steuermann, das hilflos auf dem Meer der Geschehnisse treibt.«
»Man sagt, Optimismus und Selbstvertrauen zeitigen Erfolg.«
Nun ja, Blair sagt das.
»Ich bin eher schüchtern, fürchte ich, und verpasse deshalb so manche Gelegenheit. Und du hast dein Leben jetzt wieder unter Kontrolle?«, fragte Jennifer. Ob er wohl wusste, dass sie gerade erst in diesen Prozess einstieg?
»Unterbewusst habe ich meine Wahl getroffen. Zunächst einmal bin ich hier und nicht im Mittleren Osten. Und eine Wunde beginnt zu heilen, was ich niemals erwartet hätte.«
Bevor Jennifer diese rätselhafte Antwort weiter hinterfragen konnte, tauchte Isobel an der Tür auf.
»Ich rieche Toast.
Weitere Kostenlose Bücher