Die Korallentaucherin
Notfall auch ernähren konnte. Vielleicht Lehrerin, Krankenschwester, Bankangestellte. Christina traute Männern nicht sonderlich, mochte sie auch nicht wirklich. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie ihre Versprechungen einhielten. Sie hatte zugesehen, wie ihr Vater ihre Mutter fertiggemacht hatte, und viele Freundinnen hatten ihr von den Enttäuschungen in ihren Ehen erzählt, und Roger hatte sich auch nicht als der erfolgreiche Mann erwiesen, den sie sich erhoffte. Vielleicht verlangte sie zu viel. Roger warf ihr vor, dass sie nie zufrieden wäre. Wenn sie einen Beruf hätte, irgendeine Arbeit, dann wäre vielleicht alles anders. Aber was sollte sie tun? Sie hatte zwei kleine Kinder und war die Frau eines Farmers auf einer dem Untergang geweihten Farm.
Tina drückte ihre Zigarette aus. Nun, zunächst einmal musste sie das Beste aus ihrer Situation machen. Wenn die Kinder erst älter waren und die Farm hoffentlich wieder schwarze Zahlen schrieb, dann würde ihr Leben sich vielleicht zum Besseren verändern.
Für Roger war die Küste eine Welt ohne Kummer und Sorgen. Er war frei von der endlosen Reihe von Pflichten, dem herzzerreißenden Anblick des mageren Viehs, des spärlichen Futters und der beinahe leeren Stauseen. Frei von der ständigen Erschöpfung und Depression, während er seinen fröhlichen, lebhaften Kindern ein heiteres Gesicht zeigte und Christina eine verschlossene, unzufriedene Miene zur Schau trug.
Hier fühlte er sich wieder wie ein Kind. Er und Teddy redeten ausführlich über die Montage ihrer Angeln, übers Auswerfen und darüber, wie sie ihren großen Fang an Land drillen würden. Immer wieder schaute er sich nach Jennifer um, die hingebungsvoll im knöcheltiefen Wasser watete, die Gezeitentümpel inspizierte und kleine Muscheln, Algen und hübsche Steine in ihrem Eimer sammelte. Sie ist so ein selbständiges kleines Mädchen, dachte er liebevoll. Sie würde in dieser Welt schon zurechtkommen. Er konnte nur hoffen, dass Tina nicht ihren geballten Ehrgeiz auf Jennifer übertrug und versuchte, das Leben, das sie nie hatte, durch ihre Tochter zu finden.
Ihm war bewusst, dass sie finanziell schwere Zeiten durchmachten, und dadurch waren ihre Gefühle zueinander erkaltet. Sie lebten ihre tägliche Routine, doch die Nähe, die Zuneigung, die Freundschaft fehlten. Hatte es sie je gegeben, fragte er sich in plötzlicher Erkenntnis. Er wusste, was Tina dachte, und dadurch fühlte er sich noch unzulänglicher und trauriger. Sie hatte gewusst, was er war, was er vorhatte – eine eigene Farm besitzen und bewirtschaften –, und das hatte er getan. Seine Mutter hatte ihm geraten, ein Mädchen vom Land zu heiraten, das wusste, worauf es sich einließ. Ein Mädchen aus den Vororten einer Großstadt würde nicht durchhalten, wenn die unvermeidlichen schweren Zeiten kamen, die Teil des Landlebens waren. Nun ja, zumindest blieb Tina bei ihm.
Er bemühte sich, die nörgelnde Stimme in einem Winkel seines Bewusstseins zu überhören, die in Frage stellte, ob sie zusammenblieben. Vielleicht wäre es besser für sie, ihre eigenen Wege zu gehen. Aber nicht für die Kinder. Sie waren der Leim, der sie zusammenhielt. Und Roger liebte seine Kinder – der Gedanke, sie nicht jeden Tag um sich zu haben, war für ihn tabu. Wie seine Mutter sagte: in guten wie in schlechten Zeiten, wie man sich bettet, so liegt man.
Seine Grübeleien hatten ihn abgelenkt, und er sah sich nach seinem Sohn um, der konzentriert an seiner Rolle bastelte. Dann suchte sein Blick Jennifer. Sie war nicht da.
Es schnürte ihm die Kehle zu, er trat einen Schritt zurück, und da entdeckte er ihre kleine Gestalt. Der Sonnenhut war ihr, gehalten von einem Gummiband, auf den Hinterkopf gerutscht. Sie hockte vor einem Tümpel am Rand des Felsens. Anscheinend war sie dem kleinen Priel bis an den Rand des Wassers gefolgt, fasziniert von dem Leben in der Unterwasserwelt. Doch sie befand sich zu nahe an der Stelle, wo die Wellen auf den Felsvorsprung schlugen.
Er wandte sich um und rief an Teddy vorbei: »Jennifer! Jennifer … komm zurück an den Strand! Das ist viel zu gefährlich da …«
Teddy drehte sich um und blickte zu der Stelle hinüber, wo Jennifer hockte. Beide sahen nicht die große drohende Welle.
Man sagt, es sei jede siebte Welle. Aber wer zählt schon mit? Diese schwellende Wasserwand musste gewartet und das Volumen des Ozeans in ihrer Brust aufgenommen haben, bis sie voll, massiv und zerstörerisch war.
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