Die Kornmuhme (German Edition)
Rucksack und schob nach langem Zögern - den
Prügel in der Hand haltend - den dicken Riegel zur Seite.
Die Türe öffnete sich fast
geräuschlos, und er stand noch eine Weile ängstlich unter dem Türsturz, um in
beide Richtungen des Ganges zu spähen. Nach einer Weile hatte er sich davon
überzeugt, dass nun wirklich niemand mehr darauf wartete, dass er den Raum
verließ. Dann ging er langsam die Stiege hinunter. Als er in den Gastraum kam,
saßen alle düsteren Gesellen wieder an derselben Stelle, wie am Abend zuvor und
starrten vor sich hin. Die Wirtin wusch murrig das Geschirr und beachtete ihn
nicht.
>>Ich geh dann<<,
flüsterte er ihr zu, als er an ihr vorbei ging und den Prügel auf die Theke
legte. Sie schaute nicht einmal auf und reagierte auch sonst in keinster Weise.
Ihr war klar, dass er keine Sekunde länger in diesem Haus bleiben würde. Sie
hatte ihr Geschäft mit ihm gemacht, ab jetzt war er nur noch lästig.
>> In welcher Richtung komme
ich am schnellsten aus dem Wald heraus?<<, fragte er.
Sie blickte immer noch nicht auf
und zeigte mit einem Finger in irgendeine Richtung.
>>Danke<<, sagte er,
und ging an den aufrecht sitzenden und streng riechenden, ehemaligen Kaufleuten
vorbei ins Freie. Ihre Augen folgten ihm, bis die Türe hinter ihm ins Schloss
fiel.
23
Die Ähnl stand heute einmal selbst
am Herd. Sie schien sich trotz der frühen Stunde wachzufühlen und tippelte ein
wenig wacklig auf den Beinen vor dem Kochtopf hin und her, nahm mal hier ein
Gewürz aus der Dose, um es hineinzustreuen, und pflückte mal dort von der
Fensterbank frische Triebe eines Krauts. Alles wirkte sehr vertraut auf Ranja,
als sie eintrat. Fast wie früher, als ihre Eltern noch lebten. Der Schrecken
der Nacht war verschwunden, und Ranja hatte das Gefühl, aus einem bösen Traum
erwacht zu sein.
>>Guten Morgen, mein
Kind<<, sagte Mara freundlich und lächelte ein putziges, zahnloses
Lächeln. Ich bereite schon für heute Mittag alles vor - Hasenbraten.<<
Ranja trat näher und schaute
staunend in den Topf mit dem großen Stück Fleisch. Hasenbraten hatte sie als
Kind immer bei der Ähnl gegessen, und eine wohlige, warme Erinnerung stieg in
ihr auf.
>>Wie geht‘s dir mein
Kind?<<, fragte Mara.
>>Gut<<, sagte Ranja
knapp. Es war das erste Wort, das sie seit dem Tod ihrer Eltern gesprochen
hatte. Sie verspürte keine Lust zu reden und lehnte sich an das Regal neben der
Tür. Sie war müde. Die halbe Nacht hatte sie ängstlich in ihrem Bett verbracht,
hatte Fluchtpläne geschmiedet und verzweifelt nach einem Ausweg gesucht. Nun war
dieses Gefühl wie weggeblasen. Alles schien so normal.
>>Willst du über deine
Eltern reden, Liebes?<<, fragte Mara und schaute sie mitfühlend an. Ranja
war ihr dankbar für dieses Angebot, schüttelte aber mit dem Kopf. Ihre Tante
drehte sich wieder zum Herd.
>>Etwas fehlt noch…
<<, murmelte Mara und blickte versonnen in den Tontopf, in dem das rohe
Fleisch mit Gewürzen gespickt darauf wartete, in den Ofen geschoben zu werden.
Ranja hoffte ihre Tante würde nicht auch noch alle Rezepte vergessen, die sie jemals
gekocht hatte. Sie überlegte. Zwiebeln, ja, es fehlten noch Zwiebeln!
Ranja drehte sich zu dem Regal um,
vor dem sie stand, und griff in den Krug mit den Zwiebeln. Sie tastete nach
einer möglichst dicken Knolle, als ihre Finger plötzlich etwas Hartes, Kühles
berührten. Es fühlte sich an wie kaltes Metall, und bald darauf erkannte sie,
dass es ein Schlüssel sein musste.
Sie wollte sich gerade auf die
Zehenspitzen stellen und in den Zwiebeltopf hinein spähen, als sie aus dem
Augenwinkel für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl hatte, etwas
Gespenstisches wahrzunehmen. Es war ihr, als wenn sich der Kopf ihrer Tante
erschreckend weit nach hinten drehte – weiter als es ihm eigentlich möglich
sein sollte - und sie aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Ranja erschrak
und schaute blitzartig nach rechts. Das Trugbild war verschwunden, und
stattdessen sah sie ihre Tante am Herd stehen, ihr mit dem Rücken zugewandt,
immer noch grübelnd in den Topf hineinschauen.
Hastig zog sie die Hand wieder aus
dem Zwiebeltopf. Ihr Herz raste. Doch, jetzt war es sicher. Sie wurde langsam
aber sicher selbst verrückt. Was war in diesem Haus, dass sie langsam aber
sicher den Verstand verlieren ließ?! Gerade so als würde Gryla Angst und
Zwietracht zwischen sie und Mara sähen wollen.
>>Ah, ich weiß, was noch
fehlt! <<, sagte die Tante. Sie drehte sich um und
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