Die Kornmuhme (German Edition)
war ein einziger Alptraum geworden.
Verglichen mit den seelischen Qualen, die sie nun erleiden musste, war der Tod
ihrer Familie nichts gewesen. Sie verbrachte quälend lange Stunden mit
Hausarbeit oder bloßem Herumsitzen. Ihr Körper war zu einem Gefängnis geworden.
Sie fühlte sich wie ein dressiertes Tier, das nur aufstand, aß oder arbeitete,
wenn es sein Besitzer zuließ. Sogar wenn sie etwas kitzelte oder die Kleidung
zwickte, wenn ihr die Nase juckte, Gryla ließ keinerlei eigenständige Bewegung
zu.
Sie konnte sich nicht hinlegen,
wenn sie müde war, sie konnte nicht aufstehen, wenn sie wach wurde, sie konnte
nicht essen, wenn sie Hunger verspürte. Das Schlimmste jedoch war, dass sie mit
niemandem mehr reden konnte. Sie war zu einem stummen, verzweifelten Zeugen
ihrer eigenen, traurigen Existenz geworden.
An diesem Nachmittag kam Ida mit
ihrem Vater vorbei. Ihre Familie litt immer noch schrecklich am Hunger, und die
beiden wirkten unterwürfig und niedergeschlagen. Idas Vater bat Mara inständig,
Ida wieder in ihren Haushalt aufzunehmen. Die einzige Einnahmequelle der
Familie war versiegt, seitdem Ida nicht mehr für Mara arbeiten durfte. Ida
konnte ihren Geschwistern kein Essen mehr bringen, und hatte auch selbst nichts
mehr zu essen. Idas Vater wirkte klapperdürr und eingefallen vor Sorge und
Hunger. Er hatte seinen Kindern immer den größten Anteil der wenigen Nahrung
gegeben, die Ida manchmal vorbei brachte. Inzwischen fühlte er sich auch zu
schwach, um das dringend benötigte Ackerland für den Sommer vorzubereiten, auch
wenn das Wetter langsam besser wurde.
Nun saßen sie alle am Tisch, Ida
und ihr Vater, Ranja und Mara, die eigentlich Gryla war, jetzt aber wieder wie
die alte Mara dasaß, freundlich und müde, etwas in sich zusammengesunken.
Grylas Geist war wieder hinter der harmlos wirkenden Fassade der alten,
gutmütigen Mara verschwunden.
Ranja saß neben Ida. Diese schaute
Ranja nicht an. Ranja merkte jedoch, dass sie sie ab und zu heimlich aus dem
Augenwinkel heraus musterte. Ranja versuchte sich irgendwie verständlich zu
machen. Sie schrie im Geiste laut um Hilfe, aber natürlich konnte Ida es nicht
hören. Im Gegensatz dazu zeigte Ranjas Gesicht völlige Gleichgültigkeit, was
ihre Besucher nichts merken ließ. Zumindest Roman, Idas Vater, schien nichts zu
bemerken. Ranja hoffte jedoch, dass Ida ihre Tränen sehen würde, die stetig und
ständig ihre Wangen herunterliefen, sich an ihrem Kinn sammelten und dann still
in ihre Schürze tropften.
Idas Vater räusperte sich noch
einmal, um die am Tisch wieder einmal eingenickte Mara erneut zum Gespräch
zurückzubringen. Er hatte verstanden, dass Mara kein Interesse mehr an Idas
Diensten hatte, und seine Familie mit ihrem Lohn nicht mehr rechnen konnte. Nun
versuchte er wenigstens noch das Mädchen selbst gut unterzubringen.
>>Weißt du, Ida könnte ja
auch einfach nur bei dir wohnen. Sie müsste uns nicht einmal Essen bringen –
wir wollen nichts dafür. Aber wenn sie bei dir wohnen könnte, und hin und
wieder ein wenig Brot für ihre Dienste bekommen könnte, dann hätten wir ein
Maul weniger zu stopfen. Sie kann Ranja sicherlich gut zur Hand gehen. <<
Ida blickte betreten auf den
Tisch. Ganz bestimmt wollte sie nicht zurück in dieses Haus, da war sich Ranja
sicher. Aber sie musste ihrem Vater gehorchen. Wahrscheinlich hatte sie ihm nie
erzählt, dass Mara der Fluch dieses Dorf war. Vielleicht hatte Gryla ihr auch
gedroht. Gedroht ihre Familie zu vernichte oder Schlimmeres.
Mara öffnete die Augen und gab ein
leises, zahnloses Gähnen von sich. Der Besuch störte sie natürlich, aber sie
blieb freundlich.
>>Sie kann in der
Speisekammer schlafen. Dort kann sie die Mäuse vertreiben, die an unsere
Vorräte gehen<<, sagte sie freundlich und stand auf. Dann schlurfte sie
in das Räumchen neben der Küche, und Idas Vater folgte ihr in gebückter
Haltung, sich immer und immer wieder bedankend. Ranja ekelte es an, wie Mara
ihn erniedrigte. Der Keller und die Miete im Garten waren noch voll mit
Kartoffeln, Äpfeln und Möhren vom letzten Jahr.
>>Besonders nachts knabbern
sie alles an. Aber ich zähle die Lebensmittel. Wir haben bald auch nichts
mehr<<, sagte Mara.
„Sie kann auf den Kartoffelsäcken
schlafen. Was sie bekommt, werde ich ihr jeden Morgen zuteilen. <<
Mara und Roman verschwanden in der
Speisekammer. Ranja konnte sich das Gesicht lebhaft vorstellen, das er machen
würde, sobald er den Vorrat sehen würde, der dort unter
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