Die Kornmuhme (German Edition)
angeschrien, sie solle bei sich bleiben – bei ihm. Sie
solle nicht hinhören!
Und dann, als es vorbei war, da
hatte er ihr erzählt, dass es noch weitaus Mächtigeres und Bösartigeres als die
Gryla in dieser Welt gab, und dass dies Kräfte waren, derer man sich ganz
bewusst erwehren musste, sonst war man verloren. So wie der Otmar der
Schlesierfamilie, der vor einigen Jahren in der Sonnwendnacht hinausgelaufen
war. Er war danach völlig ergraut. Grau war seine Haut geworden und auch seine Haare.
Er war seitdem nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Er hatte seit
dieser Nacht immer so gewirkt, als wenn er gar nicht mehr anwesend wäre; so als
wäre ein Teil von ihm in dieser Nacht verloren gegangen.
Irgendwann dann war er in den
Raunewald gelaufen und seit diesem Tag auf immer fort. Ein Kaufmann hatte ein
paar Wochen später steif und fest behauptet, ihn im weit entfernten Hoxberg
gesehen zu haben, verlumpt und verwirrt durch die Straßen laufend. Doch das
hatte kein Urmitzer geglaubt. Natürlich glaubten sie, dass die Gryla ihn hatte,
tot oder lebendig.
Doch was hatte das alles mit Ranja
zu tun? Mit Mara? Ranja versuchte Ida fragend anzublicken, aber Ida achtete
nicht darauf, welchen Ausdruck Ranjas Augen hatten. Sie wusste, das Ranja ihr
zuhörte und fuhr fort:
>> Einmal im Jahr geht Gryla
aus der alten Mara heraus. <<
Nun blickte sie Ranja doch
forschend ins Gesicht und gab ein triumphierendes >>Hah! << von
sich, als sie Überraschung darin entdeckte. Sicherlich war Ranja die erste, der
sie davon erzählen konnte – welche Genugtuung und Erlösung es für sie sein
musste, das alles endlich mit jemandem zu teilen! Ranja sah Ida zum ersten Mal
wirklich lächeln. Gleichzeitig fand sie eine wilde Entschlossenheit in ihren
Augen.
>>Sie spukt garnicht herum,
wie alle sagen, ich hab es genau gespürt letztes Jahr. Ihr Einfluss auf mich
wurde schwächer in dieser Nacht. Sie liegt im Bett, stocksteif. Ihr Körper
liegt da wie tot, und am Himmel ziehen seltsame Gestalten entlang, die man
kreischen und singen hört, aber nur wenn man genau hinhorcht. Es ist nicht der
Wind, Ranja! Sie holen sie ab. Mit ihnen geht sie auf Wanderschaft – vielmehr
ihr Geist tut das. Er wandert mit ihnen über den Himmel, weit, weit weg. Wohin,
weiß ich nicht. <<
Ranja schien nun noch fragender zu
blicken, denn Ida fuhr weiter fort, als hätte Ranja sie etwas gefragt:
>>Ich weiß nicht wohin sie ziehen und warum sie das machen. <<
Sie zuckte mit den Achseln und
schielte hinüber zur Tür der Speisekammer, in der sie Mara und ihren Vater
immer noch rumoren hörten. Es hörte sich an, als schichteten sie Kartoffelsäcke
um.
>> Du wirst es merken in der
Nacht, dass ihre Macht über dich stetig schwächer werden wird. Irgendwann bist
du dann ganz frei - nur wenige Stunden, vielleicht ein oder zwei - solange bis
sie wieder näher kommt. Dann spürst du Stunde für Stunde, Minute für Minute
ihre Macht über dich wieder wachsen. Und früh am Morgen, kurz bevor die Sonne
aufgeht, ist sie wieder über Urmitz, und steigt hinab aus dem rauschenden Tross
am Himmel, und zurück in Maras Körper. Und dann ist sie mit mehr Kraft zurück
als zuvor! <<
Ranjas Herz hüpfte. In ihr keimte
Hoffnung auf. Allein die Vorstellung wieder Herr ihres eigenen Körpers zu sein,
und wenn es auch nur für ein paar Stunden war…
>>Wir haben also nur eine
Nacht, um der alten den Garaus zu machen <<, wisperte Ida leise weiter.
>> Ich habe es damals nicht
gewagt irgendetwas zu tun. Nur alles beobachtet habe ich. Ihre Tür war
verschlossen, aber nicht abgesperrt. Ich habe nicht versucht sie zu öffnen,
aber durchs Schlüsselloch habe ich gesehen wie sie da lag – stundenlang – wie
tot! Und diesmal Ranja, glaub mir, lieber sterbe ich, als dass ich noch einmal
als lebendige Tote durch dieses Haus wandeln muss, so wie ich es die letzten
Jahre tun musste. <<
Ida hatte Grauenvolles mitmachen
müssen. Ihre Kraft und ihr ungebrochener Wille machten Ranja Mut.
>> Aber du musst stark sein
Ranja<<, flüsterte Ida. >> Es wird dich viele Stunden kosten, dich
aus dem Bann zu lösen, und aus eigener Kraft deinem Körper zu befehlen, in ihr
Zimmer zu gehen. Aber wenn sie einmal weit genug weg ist, dann hast du es
leichter. Sie denkt du schläfst, aber das werden wir nicht in dieser Nacht,
Ranja! <<
Ranja war überglücklich, dass Ida
sie verstand und mit ihr sprach. Sie versuchte sich alles genau zu merken.
Allerdings hatte sie nicht vor, in dieser Nacht
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