Die Kornmuhme (German Edition)
Ahnung belassen sollen. Hätte
gut daran getan, ihr ungutes Gefühl weiterhin zu verdrängen. Warum hatte sie
sich selbst das angetan? Ihre Neugierde und ihr brennender Wunsch nach
Antworten auf ihre Fragen, hatte sie hierher gebracht. Nun war sie zu einer
Bedrohung für Gryla geworden, zu einer Mitwisserin.
Die Hex‘ hielt sich sicherlich
schon seit Jahrzehnten im Körper ihrer Tante versteckt. Vielleicht hatte sie
schon vor Ranjas Geburt Maras Geist ausgelöscht und ihr Leben übernommen.
Vielleicht sprang sie seit Jahrhunderten von einem Urmitzer zum nächsten -
immer dann, wenn der Körper in dem sie sich gerade befand, alt geworden war und
ausgedient hatte – eben dann, wenn ein neuer her musste.
Ranjas größte Sorge war es seit
dem Tag, an dem sie das verbotene Zimmer betreten hatte, dass sie die Nächste
werden würde. Dass sie Grylas nächster „Wirt“ werden sollte, da Maras Körper
schwach geworden war. Er würde nicht mehr lange durchhalten, das war ihr klar.
Die Hexe war zu vielen Pausen gezwungen, musste viel schlafen. Vielleicht hatte
Gryla ihre Eltern nicht nur getötet, um sie zu bestrafen, sondern ganz einfach
auch, um Ranja in ihr Haus zu holen, um sie nach Maras Tod ebenfalls zu einer
besessenen Einsiedlerin am Waldesrand zu machen, damit sie in deren Identität
versteckt, ihre dunklen Machenschaften ungestört fortführen konnte.
Alle würden sagen, dass die Ranja
vom Senner-Reinulf seit dem Tod ihrer Eltern wunderlich geworden wäre und sich
von der Welt zurückgezogen hätte. So wie es einst über Mara geheißen hatte.
Über sie kursierte die Geschichte, dass sie vor vielen, vielen Jahren einmal
der Gryla im Wald begegnet, und dass sie seitdem nicht mehr dieselbe gewesen
wäre - eben wunderlich geworden sei. Ranja sah diese Geschichte nun zum ersten
Mal mit anderen Augen. Dies war nicht nur eine spannende Anekdote, die man sich
in Urmitz dann und wann abends am knisternden Lagerfeuer erzählen konnte, wenn
die Familien beisammensaßen. Es war die grauenvolle Wahrheit.
Die Sorge um das, was sie selbst
tun würde, wenn Gryla nun in sie überging, vor allem die Vorstellung, was sie
Aron antun könnte, wenn er erfolglos zurückkehrte, brachte Ranja fast um den
Verstand.
Sie dachte an die Andeutung, die
Ida, die Magd, gemacht hatte, als sie gegangen war. Es sei etwas in diesem
Haus, hatte sie damals gesagt. Dass sie damit Mara selbst gemeint hatte, war
Ranja erst jetzt klar. Klar war ihr auch geworden, weswegen Ida ihr immer
gespenstisch vorgekommen war. Ihre manchmal fahrig wirkenden Bewegungen, ihr
hilfesuchender, manchmal wütender Blick hatte nichts anderes, als die
unendliche innere Pein ausgedrückt, unter der sie jahrelang gelitten haben
musste. Sie hatte mit dem Wissen um die besessene Mara leben müssen, mit der
Angst um ihre Familie, und - was am schlimmsten war - mit der Unfähigkeit,
irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen zu können.
Gryla hatte nun auch Ranja seit
der Nacht im Zimmer mit einem Bann belegt - so, wie sie es zuvor sicherlich
auch mit Ida getan hatte. Vielleicht war Ida genauso neugierig gewesen, war
vielleicht in das verbotene Zimmer gegangen…
Ranja kam sich wie eine
ferngelenkte Puppe vor. Sie stand auf wie jeden Morgen, machte Feuer, ging zu
den Hühnern und fütterte sie, kochte Brei auf dem Herd – ein Besucher hätte
keine Veränderung an ihr bemerkt. Aber es waren nicht mehr ihre eigenen
Handlungen. Sie konnte nur hilflos zusehen, wie sie all diese Dinge tat.
Wenn sie sprechen wollte, konnte
sie es nicht. Wenn sie aufstehen oder wegrennen wollte - nicht einmal sich
selbst am Kopf kratzen, konnte sie mehr, ohne dass Gryla es zuließ. Nichts an
ihrem Körper gehorchte ihr mehr. Heutemorgen hatte Gryla sie grinsend begrüßt,
und Ranja hatte nichts anderes tun können, als den Morgengruß zurückzugeben,
egal wie sehr sie sich dagegen sträubte. In den ersten Tagen hatte sie sich mit
aller Macht gegen die automatischen Bewegungen zu wehren versucht, die ihr
Körper ausführte, aber nichts hatte geholfen. Ein fremder Geist, Grylas Geist,
beherrschte sie nun vollständig.
Ranja fragte sich, ob in Maras
Körper vielleicht auch noch irgendwo die verzweifelte Seele ihrer Tante lebte,
oder ob diese schon lange erloschen war. Sie wollte schreien und weinen, tat
dies aber nur innerlich.
Ihre Verzweiflung war so groß,
dass sie Stunden über Stunden kaum aus den Augen sehen konnte, da sie sich
immer wieder mit Tränen füllten. Ihr Leben
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