Die Kornmuhme (German Edition)
in Maras Zimmer zu gehen, um
sie zu töten. Sie wollte nur weg von hier so schnell es ging – vielleicht
innerhalb einer Nacht den Raunewald durchqueren. Vielleicht war das ja möglich.
Zudem konnte sie doch ihre eigene Tante nicht umbringen! Auch wenn von dieser
vielleicht nur noch diese Hülle übrig war, nein, sie war sich sicher: sobald
sie die Kontrolle über ihren Körper zurück erlangen würde, dann würde sie das Weite
suchen, und wenn es das Letzte war, das sie tat.
Und noch etwas kam ihr in den
Sinn. Ob das Bewusstsein ihrer Tante vielleicht jedes Jahr zur
Sommersonnenwende an die Oberfläche treten konnte? Ob sie noch irgendwo da drin
war in dieser leeren Hülle, die dann wie tot da lag? Ranja schmerzten diese
Gedanken. Sie wollte nicht, dass der Geist ihrer Tante noch am Leben war, denn
das musste bedeuten, dass sie all die Jahre Unfassbares zu erleiden hatte.
Ida unterbrach Ranjas Gedanken.
>>Du darfst es nicht zulassen,
dass sie deine Seele vergiftet. Sie sucht nach einem neuen Körper, glaub mir!
Erst vergiftet sie deine Gedanken, dann überwältigt sie deine Seele und behält
deine lebendige Hülle. Sie wollte einmal in mich übergehen, in der Nacht, kurz
bevor das mit deinen Eltern passiert ist. Aber sie hatte nicht mit mir
gerechnet! <<
Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
>> Ich liebe meine Familie
über alles, und Liebe, Ranja … Liebe ist unsere stärkste Waffe! Wenn es noch
jemanden gibt, den du wirklich liebst, dann denke an ihn, wenn sie in dich
übergehen will. Denke an Aron! Sie wird dann versuchen Zweifel in dein Herz zu
säen, Gleichgültigkeit, Unmut, Einsamkeit, Wut auf ihn, Hass. Lass dich davon
nicht forttragen! Welchen Groll du auch dann gegen Aron hegen wirst, er kommt
nicht aus dir heraus - es ist ihr Wirken in dir. Einzig bedingungslose,
verzeihende Liebe kann dich befreien. Und auch in der Nacht, wenn sie weg ist,
kannst du ihren Bann nur wirklich brechen, wenn du dich mit Liebe füllst.
<<
Ranjas Herz klopfte. Sie saugte
jedes Wort auf, das von Ida kam. Sie hörte Maras Stimme in der Ferne und das
Geräusch von polternden Kartoffelsäcken. Sie wünschte sich, dass Ida sie in den
Arm nahm und ihr sagte, dass alles gut werden würde. Aber auch ihre Worte gaben
ihr schon unendlich viel Trost in dieser dunkeln Stunde.
>>Mir bleibt nicht mehr viel
Zeit zu reden, Ranja. Ich merke schon, wie sich ihr Griff wieder um meine Seele
legt. Aber ich schwöre dir bei den Göttern, dass ich es nicht mehr zulassen
werde. Diese Sonnwendnacht wird ihr Ende bedeuten! Denn ohne einen Körper kann
auch sie nicht sein. Die Liebe zu meinen Geschwistern ist so rein - sie wird
mir Kraft geben in Maras Zimmer zu gehen und ihre Hülle zu töten. <<
Mara und Idas Vater kamen zurück
in die Küche. Mit seinen hungrigen Augen stierte er zu seiner Tochter herüber.
>>Also ist es abgemacht?
<<, fragte er mit bebender Stimme. In seiner Hand hielt er ein kleines
Stück Brot, und ein paar mickrige Kartoffeln, die ihm Mara gegeben hatte. Es
war lächerlich wenig im Vergleich zu seiner Not.
>>Ja, das ist es! <<,
sagte Mara. Und als er ihr die Hand darauf gab, legte sich derselbe
gleichgültige Ausdruck über das Gesicht seiner Tochter wie der, den er auf
Ranjas sah.
41
Aron und Sonnwin hatten etwa 4
Stunden darauf verwendet, dieselbe Strecke wieder zurück zu laufen, die sie
gekommen waren. Aron dachte an den Landstreicher, der sicherlich noch auf der
Grenze zum Syselwald auf sie wartete.
Wie viel Zeit wohl vergangen war?
Für ihn hatte es ich gerade einmal wie ein Tag angefühlt. Wenn er die
Sonnenauf- und -untergänge jedoch richtig gezählt hatte, so war mehr als eine
Woche vergangen. Zehn Tage um genau zu sein.
Es war gerade wieder finster
geworden, als sie den Waldrand erreichten, und sie beschlossen, die Nacht im
Syselwald schnell vorbei gehen zu lassen. Nach einer Stunde kam die Morgensonne
den östlichen Horizont wieder emporgeklettert, und Aron blickte mit Schaudern
auf die halb verdurstete Gestalt am Waldrand, wie sie sie aus wilden Augen
heraus anstarrte. Der Morgentau auf den Gräsern und der Regen mussten den Mann
all die Tage am Leben gehalten haben. Vielleicht hatte er auch Käfer und
Schnecken gegessen, wenn sie vorüber gekrochen kamen.
>>Er wird uns nichts mehr
tun können<<, sagte Sonnwin mit Blick auf den Zustand des Mannes, als
sie, keine 20 Fuß mehr von ihm entfernt, die Grenze übertraten.
>>Er ist inzwischen zu
schwach. <<
Das Flackern am Himmel stoppte,
sobald
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