Die Kornmuhme (German Edition)
ihre vertrauten Gesichtszüge blickte Aron plötzlich in das hohle, zerfurchte
Gesicht der alten Muhme, und ehe er fortlaufen konnte, bewegte sie sich
geisterhaft schnell auf ihn zu, neigte den hässlichen Kopf in einer fast
liebevollen Geste zur Seite und breitete die Arme aus, um ihn zu umschlingen.
Schreiend erwachte er, und ebenso schreiend erwachte jetzt Sonnwin mit der Hand
am Griff seines Schwertes.
>> Was ist? <<,
schimpfte dieser sofort, nachdem er sich gefangen hatte. Er war verärgert.
>> Musst du mich immer so
erschrecken?! <<
>>Ich… entschuldige!
<<, stammelte Aron und versuchte sich zu beruhigen.
Er konnte nicht sagen, wie lange
er geschlafen hatte. Die Sonne begann sich wieder dem Horizont zu nähern, und
die Schatten wurden nun länger, was das Lichtspiel auf dem Boden nun wieder
anstrengender werden ließ.
Stumm rafften sie sich auf und
setzten ihre schier endlos andauernde Umrundung des Riesenbaumes fort. Als es
schon fast wieder dunkel war, hörte Aron Sonnwin leise pfeifen. Der Zwerg war
ihm immer etwas voraus, da er sehr flink im Klettern war. Er schien etwas
gefunden zu haben. Auf leisen Sohlen schlich Aron näher und sah nun den Zwerg
unter eine Wurzel spähen, deren runder Wuchs den Eingang einer Höhle markierte.
Aron glaubte sogar eingewachsene Schnitzereien im Holz des Baumes zu erkennen.
Als er näher kam, verschwamm dieser Eindruck jedoch wieder, und er sah nur die
ganz gewöhnliche Zeichnung der Rinde.
Sonnwin schlich voran in die Höhle
hinein. Er hatte keinerlei Probleme, sich im Dunkeln zurechtzufinden. Aron
raunte ihm verzweifelt zu, er solle doch auf ihn warten, was der Zwerg dann
auch tat. Sonnwin fühlte sich mit einem Mal wunderbar. Eine Höhle! Er atmete
auf.
Zum ersten Mal in seinem Leben
wurde ihm wirklich bewusst, wie sehr er doch ein Erdling war, und dass er den
Schutz der dunklen Gänge um sich herum brauchte, so wie ein Vogel den Himmel
und ein Fisch das Wasser brauchte. Eine Zeit lang tapsten sie durchs Dunkel ins
Innere des Baumes. Es war nun stockfinster. Aron lief gebückt und klammerte
sich an der Schulter des Zwerges fest. Trotzdem stolperte er häufig. Sonnwin
entledigte sich bald Arons unangenehmem Griff und ließ ihn alleine den Weg
ertasten. Der Junge war ihm lästig, und er fühlte sich endlich mal in seinem
Element. Sollte Aron mal sehen, wie es sich anfühlte, wenn man sich auf der
falschen Seite der Erdkruste bewegte.
In der Dunkelheit gewahrte Aron
bald ein Glimmen. Sonnwin war schon weit vorausgelaufen, und er sah, wie sich
seine Silhouette vor dem immer größer werdenden, grünlichen Licht nun klar
abzeichnete. Sie standen in einer Höhle. Die Wände waren mit Moos bewachsen,
von dem ein phosphorisierendes Licht ausging, das alles zum Leuchten brachte.
Als Aron Sonnwin erreichte,
starrte er erstaunt und ehrfürchtig auf die drei Gestalten, die vor ihnen in
der Mitte der Höhle aufragten. Es sah aus, als wären es drei Frauen, die
ineinander verschlungen dastanden. Dann wiederum, wenn er genau hinsah, wirkten
die Wesen eher wie drei Wurzeln, die ineinander verwachsen waren. Ihre Haut war
knorrig, und auch ihre Kleider sahen aus, als würden sie aus Rinde bestehen.
Sie waren jung und doch waren sie alt. Immer wieder änderten sich die Eindrücke
vor Arons Augen, so dass er schon ganz wirr im Kopf wurde und wegsehen musste.
Die Finger der Nornen waren das Einzige, was sich an ihnen bewegte.
Alle drei standen da, die Hände in
die Höhe gereckt, und flochten behände drei glitzernde Fäden ineinander, die
aus der Decke über ihnen kamen. Es war als sonderte Ygdrassil selbst dieses
Gespinst ab. Die Fäden waren so dünn wie Spinnenweben, und doch schienen sie
unzerreißbar zu sein. Immer, wenn die Nornen wieder ein Stück zwischen ihren
Hände verzwirbelt hatten, sank es zu Boden, doch noch bevor es die Erde
erreichte, wurde es durchsichtig und verschwand.
Ihre Münder bewegten sich nicht,
trotzdem hörte er ihre knarzigen Stimmen alle gleichzeitig leise seinen Namen
rufen. Auch Sonnwins Namen riefen sie. Sonnwin und Aron standen wie angewurzelt
da und starrten auf das merkwürdige Gebilde. Die Stimmen wisperten
durcheinander, und immer wieder hörten sie ihren Namen, so als würden die
Nornen von ihnen erzählen. Aron glaubte zu verstehen, wie eine Stimme sein
Leben erzählte, sogar von dieser Reise glaubte er sie reden zu hören. Dann
verschwand dieser Eindruck wieder, und das monotone Stimmengewirr ergab keinen
Sinn mehr.
>> Und nun steht
Weitere Kostenlose Bücher