Die Kreatur
sich endlich in einem Zuhause aufhält. Eine menschliche Behausung ist unantastbar. Eine Zuflucht. Eine Erweiterung der eigenen Persönlichkeit, sagt Martha. Das eigene Zuhause ist der sicherste Ort auf Erden.
Jetzt befindet er sich im Herzen dieser Behausung, im sichersten Raum des sichersten aller Orte, wo viele glückliche Erinnerungen entstehen und wo Gemeinsamkeit, Gespräche und Gelächter an der Tagesordnung sind.
Randal sechs hat noch nie gelacht. Einmal hat er gelächelt. Als er das Haus der O’Connors erreicht hat, dem Unwetter entkommen ist und sich im Kriechraum verborgen hat, als er in der Dunkelheit zwischen den Spinnen gelegen und gewusst hat, dass er es früher oder später schaffen wird, zu Arnie zu gelangen, hat er gelächelt.
Als er die Tür zur Speisekammer öffnet, erschlagen ihn die Vielfalt und die Mengen von Lebensmitteln in Dosen und Verpackungen, die er auf den Regalen sieht. Nie hat er es gewagt, sich einen solchen Überfluss vorzustellen.
In den Händen der Barmherzigkeit sind ihm die Hauptmahlzeiten und die kleinen Snacks zwischendurch in sein Zimmer gebracht worden. Andere hatten die Speisenfolge geplant. Man hat ihn nicht vor die Wahl gestellt, was er gern essen möchte. Nur die Farbe der Lebensmittel durfte er sich aussuchen, denn darauf hat er beharrt.
Hier tun sich ihm verwirrende Wahlmöglichkeiten auf. Allein schon von den Dosensuppen sieht er sechs verschiedene Sorten.
Als er sich von der Speisekammer abwendet und die obere Tür des Kühlschranks öffnet, zittern seine Beine, und seine Knie werden schwach. Unter anderem enthält das Gefrierfach drei Kilopackungen Eiscreme.
Randal sechs liebt Eiscreme. Er kann gar nicht genug davon bekommen.
Seine anfängliche Begeisterung verwandelt sich abrupt in Enttäuschung, als er sieht, dass es sich bei keiner der drei Packungen um Vanilleeis handelt. Es gibt Schokoladeneis mit Mandeln. Es gibt Schokoladeneis mit Pfefferminz. Es gibt Erdbeerbananenmix.
Randal hat sich bisher im Großen und Ganzen nur von Lebensmitteln ernährt, die entweder weiß oder grün sind. In erster Linie weiß. Diese farbliche Beschränkung bei der Nahrungsaufnahme dient ihm als Schutz vor dem Chaos und ist ein Ausdruck seiner autistischen Veranlagung. Milch, Hühnerbrust, Truthahn, helle Kartoffelsorten, Popcorn (ohne Butter, denn die Butter färbt es gelblich), geschälte Äpfel, geschälte Birnen … Grünes Gemüse wie Kopfsalat, Staudensellerie und grüne Bohnen duldet er, ebenso grüne Früchte wie zum Beispiel Trauben.
Den Mangelerscheinungen durch die einseitige Ernährung, die sich strikt auf weiße und grüne Lebensmittel beschränkte, wurde mit weißen Kapseln zu Leibe gerückt, die Vitamine und Mineralstoffe enthielten.
Nie hat er eine andere Geschmacksrichtung gekostet, immer nur Vanilleeis. Ihm war immer bewusst, dass andere Geschmacksrichtungen existieren, aber er fand sie zu widerwärtig, um sie auch nur in Betracht zu ziehen.
Aber bei den O’Connors gibt es kein Vanilleeis.
Im ersten Moment fühlt er sich niedergeschlagen und will sich schon der Verzweiflung hingeben.
Aber er hat Hunger, er ist vollständig ausgehungert und wie nie zuvor zu Experimenten aufgelegt. Zu seinem eigenen Erstaunen nimmt er die Packung Schokoladeneis mit Pfefferminz aus dem Gefrierfach.
Nie zuvor hat er etwas Braunes gegessen. Er greift zum Schokoladeneis mit Minze und nicht zu dem mit Mandeln,
weil er vermutet, dass es grüne Stückchen enthält, die es vielleicht zumutbar machen.
Er zieht einen Löffel aus der Besteckschublade und trägt die Kilopackung Eis zum Küchentisch.
Braunes Essen. Ob er das überlebt, ist noch nicht raus.
Als er den Deckel von der Dose zieht, stellt Randal fest, dass sich die Minze in dünnen, leuchtend grünen Fäden durch die kalte braune Masse zieht. Diese vertraute Farbe macht ihm Mut. Die Packung ist voll, und er stößt den Löffel hinein.
Er hebt den vollen Löffel, doch ihm fehlt der Mut, der nötig ist, um ihn in den Mund zu stecken. Er muss vier zaghafte Anläufe unternehmen, bevor es ihm beim fünften Mal gelingt.
Oh.
Überhaupt nicht eklig. Lecker.
Ungeheuer lecker: Ohne jedes Zögern steckt er den zweiten vollen Löffel in den Mund und gleich darauf den dritten.
Beim Essen stellt sich Frieden in ihm ein, eine Form von Zufriedenheit, die er bisher noch nie erlebt hat. Glücklich ist er noch nicht, wenn man seine Vorstellung von dem Begriff Glück zugrunde legt, aber er ist diesem ersehnten Zustand näher als
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