Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kreatur

Die Kreatur

Titel: Die Kreatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
Vom Netzwerk:
Zusammenbruch spielte sich nicht auf einer physiologischen Ebene ab. Das hier war zellulare Metamorphose, die fundamentalste Molekularbiologie, das Entzweireißen nicht nur von Gewebe, sondern von elementaren Bestandteilen.
    Unter Victors Handfläche und unter seinen gespreizten Fingern formte sich – formte sich! – das Fleisch des Unterleibs zu einer tastenden Hand, die nach ihm griff, nicht etwa bedrohlich, sondern fast schon liebevoll, und doch riss er sich schockiert los und wich zurück.
    Victor sprang auf und rief: »Eine Rollbahre! Schnell! Bringt eine Rollbahre. Wir müssen diesen Mann in den Isolierraum schaffen.«

38
    Als Erika die fünf Stahlriegel der zweiten Tür zurückschob, fragte sie sich, ob wohl eine der vier ersten Erikas diesen Geheimgang entdeckt hatte. Falls sie ihn tatsächlich gefunden hatten, dann jedenfalls bestimmt nicht gleich an ihrem ersten Tag in der Villa.
    Obwohl sie den versteckten Schalter in der Bibliothek rein zufällig berührt hatte, begann sie jetzt schon, ihre Entdeckung als die Folge einer lebhaften und bewundernswerten Neugier im Sinne des vorangehend zitierten Mr Samuel Johnson zu interpretieren. Sie wollte gern glauben, ihre Neugier sei lebhafter und bewundernswerter als die ihrer Vorgängerinnen.
    Dieser unbescheidene Wunsch ließ sie erröten, aber leugnen ließ er sich nicht. Sie wünschte sich ja so sehr, eine gute Ehefrau zu sein und nicht zu versagen wie die anderen vor ihr.
    Falls eine der anderen Erikas den Geheimgang tatsächlich gefunden hatte, dann war sie vielleicht nicht kühn genug gewesen, ihn zu betreten. Und wenn sie ihn doch betreten hatte, dann hatte sie vielleicht schon vor der ersten der beiden Stahltüren gezögert, von der zweiten ganz zu schweigen.
    Erika fünf fühlte sich zu Abenteuern aufgelegt wie Nancy Drew oder – noch besser – wie Nora Charles, die Frau von Nick Charles, dem Ermittler in Dashiell Hammetts Der dünne Mann – ebenfalls ein Buch, auf das sie anspielen konnte, ohne ihr Leben durch dessen Lektüre aufs Spiel zu setzen.
    Nachdem sie den letzten der fünf Riegel zurückgezogen hatte, zögerte sie und kostete die Spannung und die Aufregung aus.
    Zweifellos war das, was sich hinter dieser Tür befand, von ungeheurer Wichtigkeit für Victor, vielleicht sogar so bedeutsam, dass es ihn bis in alle Einzelheiten erklärte und seine wahre Natur verriet. In den nächsten ein oder zwei Stunden würde sie unter Umständen mehr über ihren brillanten, aber
enigmatischen Ehemann in Erfahrung bringen, als sie im Zusammenleben mit ihm binnen eines ganzen Jahres gelernt hätte.
    Sie hoffte, ein Tagebuch zu finden, in dem er seine tiefsten Geheimnisse, seine Hoffnungen und seine sorgsam durchdachten Ansichten über das Leben und die Liebe festhielt. In Wahrheit war es eine unrealistische Annahme, zwei Stahltüren und ein Tunnel, der unerwünschte Eindringlinge durch Stromstöße hinrichtete, seien eigens dazu konstruiert worden, sein Tagebuch an einem sichereren Ort als einer Nachttischschublade aufzubewahren.
    Trotzdem wünschte sie sich inbrünstig, einen solchen mit der Hand geschriebenen und von ganzem Herzen kommenden Bericht seinen Lebens zu entdecken, damit sie ihn kennen lernen konnte, ihn bis in sein Innerstes verstehen konnte, um ihm desto besser dienen zu können. Die Feststellung, dass sie derart romantisch veranlagt zu sein schien, überraschte sie ein wenig, doch sie war eindeutig freudig überrascht.
    Dass die Riegel an den Außenseiten dieser Türen angebracht waren, war ihr nicht entgangen. Sie zog die naheliegende Schlussfolgerung, dass es darum ging, etwas dort einzusperren.
    Erika war keineswegs furchtlos, aber es hätte sie auch niemand zu Recht als einen Feigling bezeichnen können. Wie sämtliche Angehörigen der Neuen Rasse besaß sie große Kraft, Geschicklichkeit und Gerissenheit und setzte eine glühende animalische Zuversicht in ihre überragenden physischen Fähigkeiten.
    Ohnehin war jede Minute ihres Lebens nur auf die Duldung ihres Schöpfers zurückzuführen. Falls sie jemals den von Victors Stimme ausgesprochenen Befehl erhalten sollte, sich selbst abzuschalten, dann würde sie, wie ihre Programmierung es vorsah, gehorchen, ohne zu zögern.
    William, der Butler, hatte am Telefon eine solche Anweisung
erhalten und war sogar in seinem wirren Zustand dem Befehl nachgekommen. Ebenso wie er sein Schmerzempfinden abstellen konnte – wie sie alle in Krisenzeiten –, konnte er auch sämtliche autonomen

Weitere Kostenlose Bücher