Die Kreatur
…«
»Hast du im Tank denn gar nichts gelernt?«, fragte er. » Es gibt keine andere Welt als diese hier. Das ist die grundlegende Voraussetzung für unseren Glauben. Wir sind durch und durch rationalistisch und materialistisch eingestellt. Jeglicher Aberglaube ist uns verboten .«
»Das weiß ich selbst. Glaubst du etwa, das wüsste ich nicht? Der Aberglaube ist einer der größten Mängel der Alten Rasse. Ihr Geist ist schwach und voller Torheit, Furcht und dummem Zeug.«
Benny zitierte, was sie gesagt hatte, als sie auf die Limousine zugefahren waren: »›Gepriesen sei Ibo, alle Ehre sei Ibo.‹ Das klingt nicht nach einer materialistischen Einstellung. Jedenfalls nicht in meinen Ohren. Nein, ganz gewiss nicht.«
»Würdest du dich vielleicht mal wieder beruhigen?«, sagte Cindi. »Wenn du ein Angehöriger der Alten Rasse wärest, würde dir jeden Moment ein Blutgefäß platzen.«
»Gehst du da manchmal hin, wenn du ausgehst?«, fragte er. »In eine Wodu-Kirche?«
»Es gibt keine Wodu-Kirchen. Diese Bemerkung zeugt von Ignoranz. In der Tradition von Haiti wird der Tempel Houmfort genannt.«
»Dann gehst du also in einen Houmfort «, sagte er grimmig.
»Nein, weil Wodu hier im Allgemeinen nicht nach der Tradition von Haiti betrieben wird.«
Da sie jetzt aus der Sichtweite der Limousine waren, fuhr sie vom Forstweg ab und parkte im Gras. Sie ließ den Motor und die Klimaanlage laufen.
»Zozo Deslisle verkauft Gris-Gris in ihrem kleinen Häuschen in Treme, und sie versteht sich auf Zauber und Beschwörungen. Sie ist ein Bokor des Ibokults und hat viel Mojo , das kann ich dir versichern.«
»So gut wie nichts von dem, was du gerade gesagt hast, war verständlich«, sagte Benny. »Cindi, ist dir überhaupt klar, wie groß die Schwierigkeiten sind, in denen du steckst? In denen wir beide stecken? Wenn einer unserer Leute herausfindet, dass du religiös geworden bist, dann wirst du ausgeschaltet und ich wahrscheinlich auch. Wir haben es recht hübsch – wir beide haben die Erlaubnis zu töten, und wir bekommen immer mehr Aufträge. Wir werden von unseresgleichen beneidet, aber du wirst mit deinem verrückten Aberglauben alles verderben.«
»Ich bin nicht abergläubisch.«
»Ach ja?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Wodu ist kein Aberglaube.«
»Es ist eine Religion.«
»Es ist eine Wissenschaft«, sagte sie. »Es ist wahr. Es funktioniert. «
Benny stöhnte.
»Aufgrund von Wodu«, sagte sie, »werde ich schließlich doch noch ein Kind bekommen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Die beiden könnten jetzt bewusstlos auf der Ladefläche liegen«,
sagte Benny. »Wir könnten auf dem Weg zu dieser alten Fabrik sein.«
Sie zog den Reißverschluss ihrer Handtasche auf und holte ein kleines weißes Baumwollsäckchen heraus, das mit einer roten Schnur zugebunden war. »Es enthält eine Adam- und eine Evawurzel, die zusammengenäht sind.«
Er sagte kein Wort.
Jetzt nahm Cindi einen kleinen Tiegel aus ihrer Handtasche. »Judasmischung, das sind Knospen aus dem Garten Gilead, pulverisiertes vergoldetes Silber, das Blut eines Kaninchens, VanVan -Essenz, pulverisierter …«
»Und was tut man damit?«
»Man rührt einen halben Teelöffel in ein Glas warme Milch und trinkt sie jeden Morgen. Dabei steht man in einer Prise verstreutem Salz.«
»Das klingt sehr wissenschaftlich.«
Sein Sarkasmus entging ihr nicht. »Jetzt tu nicht so, als würdest du dich mit den Naturwissenschaften besonders gut auskennen. Du bist kein Alpha. Du bist auch kein Beta. Du bist ein Gamma, genau wie ich.«
»Das stimmt«, sagte Benny »Ein Gamma. Und nicht etwa ein ignoranter Epsilon. Und auch kein abergläubischer Angehöriger der Alten Rasse. Ein Gamma .«
Sie packte die Adam- und die Evawurzel und die Judasmischung wieder in ihre Handtasche und zog den Reißverschluss zu.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Benny.
»Wir haben einen Auftrag, oder hast du das ganz vergessen? Wir sollen O’Connor und Maddison töten. Ich weiß auch nicht, warum wir das nicht längst getan haben.«
Benny sah starr durch die Windschutzscheibe in den Park hinaus.
Seit er aus dem Schöpfungstank gekommen war, war ihm noch nie so trostlos zumute gewesen. Er sehnte sich inbrünstig
nach Beständigkeit und Ordnung und auch danach, alles fest im Griff zu haben, aber er musste feststellen, dass das Chaos um ihn herum eskalierte.
Je länger er an diesem Dilemma herumgrübelte, desto mutloser wurde er.
Während er seine Pflicht gegenüber
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