Die Kreuzfahrerin
Richtung versuchen, in die sie die Freundin entschwinden gesehen hatte. Noch hatte sie Hildes von Verzweiflung verzerrtes Gesicht vor Augen. Betrübt ergriff sie das Halfter des Esels und wendete den Karren. Langsam schritt sie die Gasse hinunter zurück zum Tor.
Dort entdeckte sie einen Trupp Normannen, der sich gerade als Torwache aufstellte. Unter den Männern erkannte sie Ailwin. Aufatmend rief sie ihn an. „Ailwin, Ailwin, wie froh bin ich, dich zu sehen. Bist du unverletzt?“ Der junge Krieger drehte sich um, als er seinen Namen hörte, die Zeichen des Kampfes und seine harten Gesichtszüge erschreckten Ursula beinahe, doch als Ailwin sie erkannte, huschte ein vertrauensvolles Lächeln über sein Gesicht. „Ursula, ja, es geht mir gut. Bohemund ist neuer Statthalter, und wir haben gesiegt.“
„Hast du Hilde irgendwo gesehen?“, wollte Ursula von ihm wissen.
„Nein, sie war gestern Abend noch bei uns, und vielleicht ist sie mit den Männern bis hoch zu der Burg gegangen, aber mit Sicherheit kann ich es dir nicht sagen.“
Verzweiflung machte sich in Ursula breit. Wie sollte sie in dieser großen Stadt, durch die plündernd und mordend tausende und abertausende Wallfahrer tobten, ihre Freundin finden? Mutlos suchte sie sich die erstbeste Gasse aus und zog den Esel hinter sich her. Hier unten in der Stadt wurde es langsam ruhiger, und doch musste Ursula mehrmals umkehren, da sie mit ihrem Gefährt unmöglich über die sich zwischen den Häusern angehäuften Leichen gelangen konnte. Schließlich gab sie es auf. Sie stellte den Karren in eine Hofeinfahrt und setzte sich daneben auf einen Mauervorsprung. Sie würde jetzt hier sitzenbleiben, so lange, bis jemand sie fand.
Antiochia,
5. Juni 1098
Zwei Tage harrte sie an dem Platz vor dem Haus aus. Sie trank Wasser und aß etwas Brot, das sie im Haus gefunden hatte. Die Straßen waren wieder von Leben erfüllt. Soldaten und Ritter eilten hin und her und holten ihre Habe, Zelte und Gerätschaften in die Stadt. Ganze Wagen, vollbeladen mit Leichen, wurden an ihr vorbeigezogen. Nach wenigen Stunden war das Pflaster der Straße rot vom herabtropfenden Blut. Leute durchstöberten jedes Haus und schleppten alles, was ihnen wert schien, fort. Nur das Haus, in dessen Eingang Ursula saß, wurde verschont. Ursula spürte, dass sie in ihrem mit Blut besudelten Kleid und den verklebten Haaren die Leute abschreckte. Endlich hörte sie jemanden, sie erlösend, ihren Namen rufen.
„Ursula, Ursula! Hier steckst du.“ Die Angerufene sah auf und erkannte Roderichs Knappen. „Herr Roderich und Hilde suchen dich bereits überall. Sie haben mittlerweile bestimmt die halbe Streitmacht auf die Suche nach dir geschickt. Komm, Herr Roderich hat ein Handwerkerhaus genommen. Auf, ich bringe dich hin.“
„Endlich.“ Ursula atmete auf, holte den Esel aus dem Hof, schirrte ihn mit Hilfe des Knappen an und folgte ihm und dem Karren hinauf in die Stadt.
Vor dem Haus stand eine ungeduldige, sorgenvolle Hilde. Erst sah sie nur den Knappen mit dem Esel, doch dann entdeckte sie die Freundin hinter dem Gefährt. Mit einem Aufschrei stürzte sie Ursula entgegen. „Ursula! Ursula!“ Mehr konnte sie nicht sagen. Sie fielen einander in die Arme, und die kleine runde Frau drückte ihre junge Freundin so arg, dass dieser beinahe die Luft wegblieb. Von Hildes Schrei aufgeschreckt, kam nun auch Roderich aus dem Haus gestürmt. Er hob Ursula hoch, drehte sich mit ihr in den Armen um die eigene Achse und weinte Tränen der Freude.
Als sich alle wieder beruhigt hatten, führte Roderich Ursula in das Haus. „Schau, Ursula, hier ist das Herdfeuer, und hier habe ich uns ein Lager gerichtet.“ Begeistert zog er Ursula von einem Raum in den nächsten, als würde er ihr sein eigenes Schloss zeigen. Nach den vielen Monaten im nassen Zelt kam Ursula dieses Haus vor wie ein Palast. Sie hatte ein festes Dach über dem Kopf, konnte endlich all ihre Sachen waschen und trocknen, ein Haus für Hilde und sie. Ursula kam sich vor wie im Traum.
In den folgenden Tagen richteten sie sich ein. Roderich berichtete, dass die Fürsten beschlossen hatten, nach der langen, entbehrungsreichen Zeit die heißen Sommermonate über in der Stadt zu bleiben und erst im angenehmeren Herbst weiterzumarschieren. Bohemund und die Normannen wollten die Stadt nicht mehr verlassen. Der neue Statthalter wollte hier ein neues Fürstentum errichten, ähnlich wie es Balduin mit Edessa getan hatte. Nun stritten die Adligen um die
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