Die Kreuzfahrerin
Nach wie vor tropfte Tauwasser aus dem Stoff, das nun in kleinen Rinnsalen Muster auf das Brett zeichnete. Zu viert nahmen sie diese Bahre nun zwischen sich und trugen, gefolgt von allen Umstehenden, die Leiche in die Kapelle. In der Kirche war es dunkel, so wie es die von außen schwarzen Fensterlöcher erwarten ließen. Jetzt von innen gesehen waren es zu jeder Seite vier bleigraue Öffnungen, durch die an diesem Tag nur ein fahler Abglanz des Lichtes eindrang. Vorne an der Stirnseite der Kapelle stand der Altar. Auf ihm leckten aus zwei Ölschalen Flämmchen, deren Flackern das Kreuz über dem Tisch spärlich beleuchteten und die Umrisse eines auf die Balken gemalten Korpus erkennen ließen. Nur die helle Farbe warf etwas Licht zurück, und so waren außer einigen den Körper umrahmenden Linien nur die Augen und das weiße Tuch um die Hüften des Christus zu sehen. Zu den Füßen des Altars gab es eine Stufe, und auf dieser legten sie Ester ab. Im Nu sammelte sich am unteren Ende des Brettes die Nässe und bildete eine Pfütze, in der Ursula eines der Talglichter gespiegelt sah. Ihr kam die Idee, so müsse Esters Seele aussehen, und ihr kamen erneut die Tränen. Das kleine Flämmchen schien auf dem Boden vor der Leiche zu zappeln. Die Männer traten zurück und ließen den Mönch allein im Altarraum. Ludger sah Ursula weinen und schob sich hinter sie. Die Luft zwischen den gedrängt stehenden Menschen war feucht und angereichert von Rauch, Ausdünstungen und dem, was an den Schuhen haftete. Ursula hörte den Geistlichen murmelnd beten. Ihr Blick blieb an seiner Kutte haften. Sie wies so wie die Röcke der Frauen vom unteren Saum an einen etwa zwei Hand breiten, dunkleren, nassen Rand auf. Auch der Mönch musste an diesem Tag bereits einige Wege im Dorf gemacht haben. Die Haare rund um seine Tonsur hingen ihm ebenso feucht strähnig bis auf die Schultern. Erst in diesem Moment, als er sich umdrehte, bemerkte Ursula, dass er keinen Bart hatte. Freundlich schauten seine Augen auf die Trauernden, seine Stimme hatte eine angenehme Lage, und seine gefalteten Hände waren feingliedrig. Er sah so gar nicht wie ein Mönch aus. Ursula musste an den Gottesmann denken, der vor dem Winter den Hof besucht hatte. Da war Ester noch am Leben gewesen. Ludger schob sie plötzlich zur Seite. Die Leute bildeten eine Gasse, und vier Männer nahmen nun das Brett wieder auf, auf dem Esters Leichnam ruhte. Langsam trugen sie die Tote zwischen den anderen hindurch. Der Mönch griff sich einen Stab mit einem Kreuz am oberen Ende und schritt würdevoll hinter den Männern her. Alle anderen reihten sich ein. Auf dem Kirchhof blieben sie vor der ausgehobenen Grube stehen. Ludger und sein Vater nahmen das nasse Bündel vom Brett und ließen es sanft in das Grab gleiten. Jetzt, da Ester ihrem Blick entschwand, war es Ursula, als ginge ein Riss durch sie hindurch. Laut schluchzte sie auf. Man drehte sich zu ihr um, und sie schlug die Augen nieder. Sie zitterte am ganzen Körper, und die Hand Utes vermochte sie nur wenig zu beruhigen. Der Mönch begann erneut zu beten, segnete das Grab und die Leiche. Schließlich warf er einige Krumen feuchter Erde hinab und überließ die Trauergemeinde sich selbst. Einer nach dem anderen trat vor und tat es dem Priester gleich, bekreuzigte sich rasch und verließ den Kirchhof. Als Ursula an die Grube gelangte, verkrampfte ein Würgereiz ihren Körper. Sie zwang sich in die Grube zu schauen. Etwas krumm lag das Bündel aus Mensch und Stoff am Grund. „Jetzt ist es endgültig“, dachte Ursula. Schon begann die Erde Ester zu verschlucken. Sie war für immer gegangen. Ursula schaute auf. Der Bauer und die Bäuerin, auch Ludger sahen traurig aus. Alle anderen standen mit starren Mienen dabei. Sie drehte sich um und lief fort.
Mit den schweren Holzschuhen stampfte sie durch Unrat, Morast und Pfützen an einigen Hütten vorbei. Sie wusste nicht wohin. Hier kannte sie sich nicht aus. Sich dessen bewusstwerdend verlangsamte sie ihren Schritt. Schließlich hielt sie an, schnappte nach Luft und sah sich um. Sie war etwas aus dem Dorf heraus gelaufen, noch nicht weit, aber schon diese wenigen Schritte reichten aus, um sie weiter von dem Hof zu entfernen, als sie es seit ihrer Ankunft dort je gewesen war. Noch immer regnete es leicht. Durch den Vorhang des Niesels erkannte sie ein Tal, einige Hügel und in der Nähe zwei, drei Rauchfahnen. All das hatte aber keine Bedeutung für sie, und so drehte sie sich um und stapfte
Weitere Kostenlose Bücher