Die Kreuzfahrerin
tat die frische Atmosphäre im Raum sichtlich gut. Ursula beschloss, sobald sie dafür Zeit fände, eines ihrer beiden Kleider zu waschen. Wenn das Wetter sonnig bliebe, könnte sie es sogar draußen trocknen und abends in die Nähe des Herdfeuers hängen. Der Tag war schnell vergangen, und schon bald senkte sich Ruhe über das Haus. Ursula konnte sich gut vorstellen, dass es allen anderen so ging wie ihr, als sie unter ihrer Decke lag und das frische Stroh roch. Leise hörte sie Ester husten, und die Sorge um die alte Frau verdrängten alle anderen Gedanken. Es war seltsam, aber Ursula hatte den Eindruck, Ester würde immer weniger. Insgesamt kleiner, zusammengesunkener kam sie ihr vor, die Glieder dünner, die Haut durchscheinend und fahl. Ursula ahnte, auch wenn sie es nicht wollte, lange würde Ester nicht mehr da sein.
Allzu schnell wurde aus Ursulas Ahnung Gewissheit. Kaum, dass der Winter die Hausgemeinschaft erneut im Haus eingesperrt hatte, verschlimmerte sich Esters Zustand. Immer häufiger wurde der schmale Körper von heftigem Husten erschüttert, und nach jedem Anfall sank die alte Frau völlig erschöpft auf ihr Lager. Ursula brauchte immer länger, um Ester zu bewegen, das Bett überhaupt zu verlassen, und sie musste sie stützen und bis zum nächsten Schemel führen. Eines Morgens, als Ursula an das Lager der Alten schlich, um unter ihrer Aufsicht ihr heimliches Getränk zu bereiten und den Tee gegen das Husten aufzugießen, lag Ester friedlich auf ihrem Lager und atmete nicht mehr. Ursula wollte es erst nicht wahrhaben, legte ihr Ohr an Esters Mund, um vielleicht doch noch einen schwachen Atemzug zu hören, dann schüttelte sie ihren Körper sanft, um die alte Frau doch zu wecken, und schließlich brach sie in lautes Schluchzen aus. Ihr Weinen versammelte sogleich alle im Haus vor dem kleinen Verschlag. Man bekreuzigte sich, und der Knecht zog Ursula fort vom Lager. Keiner sagte ein Wort.
Im Laufe des Vormittags hoben Ute und Ingrid den ausgemergelten Körper vom Lager auf ein Sacktuch, schlugen ihn ein und vernähten den Stoffsack.
Ludger und sein Vater nahmen die Leiche und betteten sie neben der Scheune im Schnee, klopften einen festen Berg darüber und vereisten die Oberfläche mit Wasser, damit kein Tier sich an dem Leichnam gütlich tue. An eine Beerdigung und die damit verbundene Fahrt in das nächste Dorf war bei dem Wetter nicht zu denken. Man musste das Frühjahr abwarten.
In Ursula war etwas zerrissen. Weinend zog sie sich auf ihr Lager zurück, zog sich ihre Decke über den Kopf und wollte nicht mehr aufstehen. Sie dachte an das Kräutersammeln zu zweit und rief sich immer wieder Esters faltiges Gesicht mit den guten, strahlenden Augen in ihr Bewusstsein zurück. Zusammengekrümmt wie ein verwundetes Tier lag sie fast den ganzen Tag da und war auch nicht bereit, auf das Rufen der Bäuerin zu hören. „Lass sie!“, hörte sie weit weg Ute. „Ich mach schon. Sie wird sich wieder beruhigen.“ Abends stand Ursula doch noch auf und betete mit allen zusammen am Tisch für die Seele der Verstorbenen. Die Gesichter der Männer schienen härter als sonst. Auch Ingrids und Utes Augen waren gerötet, aber Ursula war davon überzeugt, niemand hatte die Alte so geliebt wie sie. Schweigend nahmen sie das Abendmahl ein. Ursula rührte trotz vorwurfsvoller Blicke ihren Teller nicht an und schlich anschließend gleich wieder zu ihrem Lager. Wimmernd hüllte sie sich in ihre Decke. Später kam Ute und streichelte ihr über den Kopf. „Wir alle gehen irgendwann. Es war an der Zeit. Ester war doch sehr, sehr alt“, versuchte sie zu trösten. Erreichen konnte sie Ursulas Seele jedoch nicht, zu tief saß ihr der Schmerz über den Verlust.
An den nächsten Tagen zwang sich Ursula aufzustehen. Sie wollte ihren Vorsatz, eine gute Magd zu sein, um dem Bauern zu gefallen, nicht aufgeben, so schwer es ihr auch fiel. Mehrmals am Tag musste sie über den Hof und sah dann den weißen, eisig schimmernden Hügel. Jedes Mal aufs Neue erschrocken bei der Vorstellung, wie Ester jetzt in diesem eiskalten Bett lag, schluchzte sie auf und verrichtete ihr Tagwerk unter Tränen.
Als ihre Augen versiegten, öffnete der Himmel seine Schleusen, und mit unangenehmem Nieselregen setzte das Tauwetter ein.
Nun mussten sie täglich neuen Schnee auf den Hügel werfen, und zuletzt ragte Esters Ruhestätte dreckig weiß als einzige Erinnerung an den Winter aus dem Matsch des Hofes.
Der Regen und die schmelzenden Schneemassen
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