Die Kreuzfahrerin
sich im Sitzen mit dem Rücken gegen den Stamm. Dann öffnete sie ihre Tasche und holte Brot und Käse hervor. Wie gut es ist, ein Messer zu haben, dachte sie bei sich, als sie sich ein Stück Brot abschnitt. In Gedanken kehrte sie zurück zu ihren Erinnerungen. Sie stellte sich das Gesicht des Onkels vor, seine Familie, doch da waren schon kaum mehr Gesichter zu erkennen. Noch schwieriger war es mit Orten. Als sechsjähriges Kind hatte sie wohl ihrer Umgebung keine Beachtung geschenkt. Deutlich konnte sie immer nur den dunklen Raum sehen, in dem die tote Mutter lag. Ein Hof, ein Dorf, eine Landschaft fand sie in ihrem Gedächtnis aber nicht.
Sie gab es auf, nahm noch einige Schlucke Wasser aus dem Schlauch und packte ihre Sachen. Sie musste weiter. Auch unter dem Baum wurde es langsam feucht. Der Nieselregen hatte sich auf den Blättern zu Tropfen gesammelt, und von Blatt zu Blatt fallend erreichten diese jetzt immer häufiger den Boden und auch Ursula. Als sie unter dem Blätterdach hervortrat und wieder aufrechtstand, behängte sie sich wieder mit der Tasche und dem Schlauch, schob die Rinde wieder unter den schmalen Riemen und setzte ihren Marsch fort. Die Rast hatte gutgetan, aber schon nach wenigen Schritten merkte sie die Müdigkeit in ihren Beinen. Sie biss die Zähne zusammen und schritt weiter.
Als sie Esters Leiche ins Dorf gebracht hatten, war sie stumpf hinter dem Schlitten hergelaufen. Jetzt ging sie mit erhobenem Haupt und nahm die Landschaft um sich herum wahr. Buchen und einige Eichen standen am nahen Waldrand, der Weg war nicht sehr breit, und die Furchen, die wohl von Wagenrädern stammten, nicht besonders ausgeprägt. Der Pfad war nicht befestigt. Wohl waren störende Steinbrocken an den Rand geräumt und ergaben manchmal einen Saum, doch meist war der Weg nur dadurch erkennbar, dass auf ihm nur niederes Gras und kaum Gesträuch wuchs.
Als sie bemerkte, dass die Dämmerung sie einholte, versuchte sie noch einmal schneller zu gehen, gab aber schnell wieder auf. Sie fand mit den Holzschuhen einfach nicht genügend Halt auf dem feuchten Untergrund. So zügelte sie ihre Schritte und wanderte etwas verzagt in die vor ihr immer dichter werdende Dunkelheit. Der Weg war nur noch als vage Schneise zwischen den dunklen Wänden des Waldes auszumachen. Mit der Dunkelheit schienen auch alle Geräusche um sie herum lauter zu werden. Jedes Knacken eines Zweiges, das Auffliegen eines Vogels und das Rascheln im Laub erschreckten sie nun. Plötzlich hörte sie das Bellen eines Hundes. Sie atmete auf, und zugleich wurde ihr angst und bang. Ein Hund bedeutete, eine Siedlung ist nicht weit, aber ein Hund war auch gefährlich. Wenn er nicht angebunden war und frei umherlief, konnte er sie anfallen. Ursula wusste nicht, was sie machen sollte. Sie blieb stehen und lauschte. Nichts. Das Bellen war verstummt, und außer dem Wind in den Bäumen hörte sie nichts. Wenn ich nur einen Stock oder einen Knüppel hätte, dachte sie. Dann wüsste ich mich schon gegen ein Tier zu wehren. Sie ging weiter, setzte ihre Füße nun aber vorsichtiger auf. Sie wollte leise sein. Als das Bellen wieder erscholl, war es schon viel näher. Und schließlich erreichte sie das Dorf. Nur der Hund schien ihr Kommen zu bemerken. Sie roch den Rauch der nahen Feuer und schlich ganz vorsichtig weiter. Ein Mann brüllte etwas, und der Hund verstummte. Ursula lauschte und versuchte sich zu orientieren. Die einzelnen Hütten konnte sie in der Dunkelheit kaum ausmachen. Nur da, wo sich ein Strohdach etwas von der Färbung des Nachthimmels abhob, konnte sie sich sicher sein, dass da ein Gebäude war. Doch wo war eine Türe, an die sie hätte anklopfen können? Ihr wurde klar, wenn sie auf der Suche nach der Türe um eine Hütte herumschleichen würde, wäre die Gefahr groß, als Bedrohung empfunden zu werden. Es würde sicherlich Aufruhr geben, und den wollte sie auf jeden Fall vermeiden.
Nirgends konnte sie ein Licht erkennen. Sie schob sich langsam weiter zwischen die Hütten und versuchte sich an Esters Begräbnis zu erinnern. Wie waren die Hütten angeordnet, wo war die Kirche? Ihre Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. War da nicht eben ein schwaches Flackern in ihrem Augenwinkel? Sie drehte den Kopf in die Richtung und konzentrierte sich auf die schwarzgraue Nacht vor ihr. Ja, richtig, da war es wieder. Ganz schwach zeichnete sich in der Nacht ein kleines Viereck ab, hinter dem das Grau nicht ganz so dunkel schien. Ursula bewegte sich
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