Die Kreuzzüge
sich im Königreich austoben, was die muslimischen Operationen deutlich stärkte und einen lateinischen Zeitgenossen zu der Bemerkung verleitete, dass die Muslime sich »wie Ameisen« ausbreiteten und »das gesamte Land bedeckten«. Und doch gingen die entscheidenden Ereignisse in jenem Sommer vor allem auf Saladins Strategie zurück. Da ihm allzu bewusst war, dass die islamische Einheit nur durch unermüdliche Aktivität auf dem Schlachtfeld aufrechterhalten werden konnte, versuchte er den Widerstand der Christen durch eine Politik der Milde und des Entgegenkommens zu schwächen. Von Anfang an wurden den Bewohnern der fränkischen Siedlungen äußerst großzügige Übergabebedingungen angeboten – sogar lateinische Quellen geben an, dass »den Bewohnern von Akkon« die Möglichkeit geboten wurde, in der Stadt zu bleiben, »sicher und wohlbehalten« unter muslimischer Herrschaft zu leben und »die Steuer zu zahlen, die zwischen Christen und Sarazenen üblich ist«, während denjenigen, die die Stadt verließen, »40 Tage eingeräumt wurden, in denen sie ihre Frauen und Kinder mitnehmen und ihre Habseligkeiten fortschaffen konnten«. 13
Gleiche Bedingungen scheinen jeder Stadt oder Festung gewährt worden zu sein, die sich widerstandslos ergab, und – was noch wichtiger war – diese Vereinbarungen wurden tatsächlich eingehalten. Indem Saladin sein Wort hielt und die Levante nicht einfach ausplünderte, festigte sich sein Ruf eines integren, ehrbaren Kriegers und entwickelte sich damit zu einer mächtigen Waffe: Denn wenn feindliche Garnisonen mit der Alternative konfrontiert wurden, letztlich aussichtslosen Widerstand zu leisten oder unter sicheren Bedingungen zu überleben, ergaben [385] sich die meisten. Dank dieser Methode wurde das Königreich Jerusalem in atemberaubender Geschwindigkeit und mit minimalem Aufwand erobert. Allerdings hatte diese Vorgehensweise auch ihre Schattenseiten. In den Monaten nach der Schlacht von Hattin wurden große Teile der lateinischen Bevölkerung zu Flüchtlingen, und gemäß seinen Zusagen garantierte ihnen der Sultan sicheres Geleit zu einer Hafenstadt, von wo aus sie – so die Erwartung – nach Syrien oder in den Westen aufbrechen würden. Aber in Wirklichkeit suchten Hunderte, später Tausende Franken Zuflucht in der Stadt, die als einziger Hafen in christlicher Hand übrigblieb – im wehrhaft befestigten Tyros.
Saladin stand nun vor einer folgenschweren Entscheidung. Große Teile der Küste und des Landesinnern waren unterworfen, und als der Sommer sich dem Ende zuneigte, war klar, dass vor Wintereinbruch, dem Ende der Kampfsaison, nur noch ein letzter Eroberungsschlag möglich war. Dafür musste ein prominentes Ziel ausgemacht werden. Unter rein strategischen Gesichtspunkten musste das Tyros sein: Die Stadt war eine Bastion lateinischen Widerstands, die täglich stärker wurde; außerdem ging von hier durch den Schiffsverkehr eine lebendige Kommunikationsader aus, die Tyros mit den Überbleibseln von Outremer im Norden und mit der ferneren christlichen Welt jenseits des Vorderen Orients verband. Insofern vermochte die Hafenstadt dem Feind als sicherer Stützpunkt zu dienen, von dem aus zu gegebener Zeit womöglich ein Versuch gestartet werden konnte, das zerschlagene Königreich der Kreuzfahrer wieder aufzubauen. Dennoch beschloss der Sultan, Tyros nicht anzugreifen; zweimal zog er auf seinen Feldzügen in den Norden und in den Süden daran vorbei. Der irakische Chronist Ibn al-Athir missbilligte diese Entscheidung: »Tyros lag offen und ungeschützt vor den Muslimen, und wenn Saladin es [früher im Sommer] angegriffen hätte, hätte er es mit Leichtigkeit einnehmen können.« Einige moderne Historiker schlossen sich dieser Einschätzung an und warfen dem Sultan mangelnden Weitblick vor. Solche Urteile verdanken sich zu einem großen Teil der Klugheit, die sich im Nachhinein einstellt. Zu Beginn des September 1187 wusste Saladin, dass eine langwierige Belagerung von Tyros seine gesamte Unternehmung plötzlich zum Stillstand bringen konnte, was in der Konsequenz zur Auflösung des von den Ajjubiden geführten islamischen Bündnisses hätte führen können. Der Sultan wollte das nicht riskieren und besann sich stattdessen auf sein zentrales ideologisches [386] Ziel: Er begab sich ins Landesinnere, um die geballte Kraft seines Heeres gen Osten, nach Jerusalem zu führen. 14
Nach Jerusalem
Der militärische Wert der Heiligen Stadt – isoliert mitten in den Bergen
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