Die Kreuzzüge
nahezu sichere Vernichtung durch die Hand des Siegers von Hattin.
In dem Moment jedoch, da Saladin energisch hätte handeln müssen, zögerte er. Es war schon ein Fehler gewesen, den König bis Akkon passieren zu lassen, doch nun unterlief ihm ein noch schwerer wiegendes Fehlurteil. Die Überzahl seiner Truppen war zwar nicht überwältigend, doch er hatte in jedem Fall ein größeres Heer als die Franken, und wenn er zusammen mit der Garnison von Akkon eine sorgfältig koordinierte Attacke unternommen hätte, dann hätte er die Franken umzingeln und überwältigen können. Stattdessen gelangte er zu der Überzeugung, [434] dass ein schneller, konzentrierter Angriff zu riskant sei, und bezog daher eine vorsichtig abwartende Stellung am Hang von al-Kharruba, ungefähr 9 Kilometer südöstlich der Stadt, von wo aus er die Ebene von Akkon überblicken konnte. Es gelang ihm (wahrscheinlich im Schutz der Dunkelheit), von den Lateinern unbemerkt eine Gruppe seiner Männer zur Verstärkung der Verteidiger in die Stadt einzuschleusen, und während er regelmäßig Kämpfer aussandte, um die Mannschaften in Guidos Lager in Scharmützel zu verwickeln, hielt er den Großteil seines Heeres zurück und wartete geduldig auf Unterstützung durch seine Verbündeten. In dieser Situation war diese für den Führungsstil des Sultans so typische Vorsicht unangebracht, sie war das Ergebnis einer eklatanten Fehleinschätzung der strategischen Möglichkeiten. Es gab einen entscheidenden Faktor, der es Saladin hätte verbieten müssen, auf Zeit zu spielen: das Meer.
Als Saladin Anfang September 1189 vor Akkon ankam, wurde die Stadt von Guidos Heer und von den Pisanern belagert. Nach der Schlacht von Hattin und der Eroberung Jerusalems war es nahezu unvermeidlich, dass die Belagerung dieser Hafenstadt durch die Franken zum Fokus der Vergeltungsmaßnahmen der erzürnten Kreuzfahrer wurde. Bei einer Belagerung im Landesinnern wäre es ein Leichtes gewesen, die Truppen des Königs von jeglichem Nachschub abzuschneiden, und hier wäre Saladins Zurückhaltung am Platz gewesen. In Akkon dagegen wirkte das Mittelmeer wie eine ständig pulsierende, nie versiegende Ader, die Palästina mit dem Westen verband, und während der Sultan abwartete, dass sich seine Streitmacht vollständig versammelte, trafen Schiffe ein, die von christlichen Kämpfern nur so wimmelten und das Belagerungsheer ständig verstärkten. Imad ed-Din, der sich damals in Saladins Lager aufhielt, beschrieb später, wie er von einem Ausblick über die Küste einen offenbar konstanten Strom fränkischer Schiffe bei Akkon einlaufen sah; die Flotte, die da am Ufer ankerte und sich ständig vergrößerte, habe ausgesehen »wie dichtes Gestrüpp«. Dieser Anblick beunruhigte die Muslime in der Stadt und außerhalb, und um die Kampfmoral zu heben, ließ Saladin wohl ein Gerücht in Umlauf bringen: Die Lateiner zögen jede Nacht ihre Schiffe aufs Meer hinaus, und »wenn es hell wird, [. . .] segeln sie zurück, und es sieht aus, als seien sie gerade erst angekommen«. Mit seiner Hinhaltetaktik erreichte der Sultan allerdings nur, dass Guido die zur Aufstockung seiner Truppen so dringend benötigte Gnadenfrist erhielt. 9
[435] Ein bedeutender Verstärkungsschub traf um den 10. September herum ein – eine Flotte von 50 Schiffen mit gut 12 000 friesischen und dänischen Kreuzfahrern mitsamt Pferden. Die lateinischen Quellen beschreiben diese Ankunft als einen Moment der Rettung, einen Umschlagpunkt, ab dem die lateinischen Belagerer sich dann immerhin mit gewissem Recht Hoffnungen auf Erfolg machen konnten. Unter den Neuankömmlingen war Jakob von Avesnes, ein berühmter Krieger aus dem Hennegau (an der heutigen Grenze zwischen Frankreich und Belgien). Von einem Zeitgenossen wurde Jakob, ein Veteran nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in Fragen der Machtpolitik, mit »Alexander, Hektor und Achill« verglichen; damals, im November 1187, gehörte er zu den ersten Rittern, die das Kreuz nahmen.
Den ganzen September über riss der Strom der ankommenden Kreuzfahrer nicht ab, und die Reihen der fränkischen Armee vergrößerten sich kontinuierlich. Es waren auch Würdenträger aus den obersten Rängen der europäischen Aristokratie darunter. Philipp von Dreux, der Bischof von Beauvais, von dem es hieß, er sei »ein Mann, der sich mehr für Schlachten als für Bücher begeistern konnte«, kam mit seinem Bruder Robert von Dreux aus Nordfrankreich, ebenso Everard, Graf von Brienne, und
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