Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
königlichen Hofes doch nicht wie ein Straßenjunge gegenübertreten! Während sie ihren zartrosa schimmernden Rock mit den Händen abbürstete, zerrte Nolan wieder an der Tür und wirbelte noch mehr Schmutz auf.
»Tut mir leid«, sagte er schulterzuckend. »Die Öffnung war noch zu schmal.«
Eryne starrte erst ihr staubiges Kleid, dann ihren Bruder entgeistert an. Eigentlich wusste sie genau, dass er nur ihr Bestes wollte, aber er war eben der Einzige, an dem sie ihre schlechte Laune auslassen konnte.
»Du hättest mich wenigstens vorwarnen können!«, schimpfte sie und wedelte mit der Hand durch die Luft.
»Vermutlich ist es da draußen noch viel dreckiger«, gab Nolan zurück. »Wenn du dich nicht schmutzig machen willst, zieh lieber den Umhang über, den ich dir gegeben habe.«
Schmollend strich Eryne über ihr Kleid und schlüpfte dann in den Umhang, der ihr viel zu weit war. Er gehörte einem der Gärtner und stank so fürchterlich nach Kautabak, dass sie sich bislang strikt geweigert hatte, ihn anzuziehen. Aber die Kälte und die Sorge um ihr kostbares Gewand gewannen nun doch die Oberhand.
Nolan wartete, bis sie fertig war, dann schulterte er das Gepäck, hielt die Laterne hoch und betrat den geheimnisvollen Gang. Eryne folgte ihm vorsichtig und sah sich erst einmal naserümpfend um. Zum Glück war der Tunnel gut ausgebaut und mit Balken abgesichert. Der Boden war sogar mit Holz ausgelegt. Ihr Vater hatte vor vielen Jahren eigenhändig dafür gesorgt, dass der Fluchtweg begehbar war.
Als Nolan die Tür zuzog, drehte sich Eryne vor Angst fast der Magen um. Nun hatten sie ihr Elternhaus endgültig verlassen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es jemals leer gestanden hätte. In den Zimmern musste eine unheimliche Stimmung herrschen. Alles war totenstill. Wie ausgestorben.
Sie gab sich einen Ruck und versuchte, die traurigen Gedanken zu verscheuchen. Bestimmt war der Spuk in zwei oder drei Tagen vorbei. Rey und Lana würden zurückkommen.
Ganz sicher …
Während sie Nolan durch den engen Gang folgte, bedauerte sie noch einmal, ihren Eltern keinen Brief hingelegt zu haben. Doch ihr Bruder hatte Recht: Wenn jemand ihrer Familie übelwollte und die Nachricht entdeckte, bevor Rey und Lana sie lasen, würde er erfahren, wohin sie flohen.
Seufzend wechselte Eryne den Rucksack von der einen in die andere Hand. Sie trug Nolans Gepäck, das sehr viel leichter war als ihr eigenes. Aber da sie nicht an körperliche Anstrengung gewöhnt war, hatte sie das Gefühl, eine tonnenschwere Last zu schleppen. Sie hätte sich den Rucksack natürlich auch einfach auf den Rücken schnallen können, doch sie war sich zu fein, wie ein Packesel herumzulaufen. Also bestand sie darauf, ihn in der Hand zu halten, obwohl sie schon jetzt ein schmerzhaftes Ziehen im Arm verspürte.
Nach etwa dreißig Schritten mündete der Gang in einen breiteren Tunnel, der in weniger gutem Zustand war. Zwischen den kreideweißen Wänden roch es nach modriger Erde, und an manchen Stellen gluckste es verdächtig, wenn sie auftraten. Zum Glück hatte sich Eryne dazu herabgelassen, wasserdichte Stiefel anzuziehen.
»Hier entlang«, sagte Nolan und bog nach links ab.
Obwohl sie ihrem Bruder vertraute, vergewisserte sich Eryne, dass der Gang in dieser Richtung mit dem vereinbarten Zeichen gekennzeichnet war. Tatsächlich war auf Augenhöhe ein großes »K« in den Stein geschlagen. Es war eine seltsame Vorstellung, dass ihr Vater vor rund fünfzehn Jahren hier hinuntergestiegen war und den Weg markiert hatte, und doch hatte sie den Beweis vor sich.
Eryne dachte schaudernd daran, wie Reyan das Labyrinth erkundet und den Weg gesucht haben musste, der sie am sichersten nach draußen führte. Jeder wusste, dass sich unter Lorelia ein weit verzweigtes Netz aus Gängen erstreckte, ein Wirrwarr an Abwasserkanälen, Schmugglerstollen, vergessenen Kellergewölben und verschütteten Baugruben. Nur wenige wagten sich jemals dort hinein, und wenn ein Zugang entdeckt wurde, ließ man ihn meistens sofort zumauern, um sich gegen Einbrecher zu schützen.
Der Herzog von Kercyan hingegen hatte aus Angst vor seinen einstigen Feinden einen geheimen Fluchtweg geschaffen. Trotzdem war er nun verschwunden …
»Weißt du, wie weit es noch ist?« Eryne zuckte zusammen. In der Grabesstille hatte sie der Klang ihrer eigenen Stimme erschreckt.
»Nein, keine Ahnung«, antwortete Nolan. »Vater hat nur erwähnt, dass wir den Markierungen folgen sollen. Wahrscheinlich
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