Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
einfachen Treppe, durch die sie ins Freie gelangten. Sie standen im hintersten Winkel eines verlassenen Hinterhofs im Norden der Stadt.
Befreit sog Eryne die frische Nachtluft ein. Voller Dankbarkeit dachte sie an ihren Vater, der nicht nur ein Kriegsheld und begabter Theaterstückeschreiber war, sondern auch ein erfahrener Abenteurer. Sein Fluchtweg hatte sie ohne Schwierigkeiten durch die halbe Stadt geführt. Nun mussten sie allein zurechtkommen.
***
Das Große Haus lag nur einige Hundert Schritte von seinem Elternhaus entfernt, doch Amanon kam die kurze Strecke unendlich lang vor. Die Straßen von Kaul waren menschenleer und wirkten in dieser Nacht viel weniger friedlich, als er sie in Erinnerung hatte. Hinter allen Ecken schienen unheimliche Schatten zu lauern, die sich jeden Moment auf ihn stürzen und ihm eine Schlinge um den Hals werfen konnten. Der grausige Anblick des toten Merbal, dem die Zunge aus dem Maul hing, hatte ihn mehr erschüttert, als er sich eingestehen wollte. Und das war nicht der einzige schockierende Fund an diesem Abend gewesen. Als er die Leichen der beiden Angreifer durchsucht hatte, war er auf zwei einander ähnelnde Schmuckstücke gestoßen: lange, feingliedrige Silberketten mit einem ovalen Anhänger, auf der die in Jerusnien beheimatete Netzwerferspinne abgebildet war. Amanon war weit genug herumgekommen, um das Abzeichen sofort zu erkennen. Die beiden gehörten zum Geheimbund der Valiponden.
Das hätte er eigentlich schon an den grünen Kutten und den Würgeschlingen erkennen können. Aber wie viele andere hatte er die Existenz dieser religiösen Fanatiker für ein Schauermärchen gehalten und hätte sich höchstens vorstellen können, dass sie irgendwo im finsteren Westen Romins ihr Unwesen trieben.
Es hieß, dass die Valiponden einen Dämon in Spinnengestalt anbeteten, ein Ungeheuer, das um ein Vielfaches größer war als seine Artgenossen. Angeblich fertigten die Sektenmitglieder ihre Schlingen aus den unzerreißbaren Fäden der Netzwerferspinne, die sie aus dem Bauch der getöteten Tiere gewannen. Die Netzwerferspinne, eine besonders gefährliche Art, lauerte nämlich nicht in einem Netz, sondern warf Fäden nach ihrer Beute aus. Dann wickelte sie sie in einen Kokon ein und erstickte sie, indem sie die Fäden immer fester zog. Die Valiponden hatten diese Tötungsmethode übernommen und glaubten, durch das Verspeisen ihrer erdrosselten Opfer ein höheres Bewusstsein zu erlangen. Daher pflegten sie schwarze Messen zu feiern, bei denen Tiere geopfert wurden, und sogar von Kannibalismus war in manchen Gerüchten die Rede.
All das kam Amanon in den Sinn, als er die Ketten entdeckte. Seine Angst wuchs. Vielleicht schwebten seine Eltern und Cael in Lebensgefahr. Was hatten die Valiponden in Kaul zu suchen? Warum waren sie hinter ihnen her?
Dass ein Kaulaner mit dieser Sekte im Bunde stand, bereitete ihm die größte Sorge. Trieben sich etwa noch mehr Fanatiker mit tödlichen Schlingen in der Hauptstadt des Matriarchats herum? Und was hatten sie vor?
Wären seine Gegner Züu gewesen, hätte Amanon wenigstens eine dunkle Ahnung gehabt, was das Ganze sollte. Er kannte die Geschichte zwar nicht in allen Einzelheiten, aber er wusste, dass seine Eltern im Jahr vor seiner Geburt bei der Schlacht in Ith am Fuß des Blumenbergs von den Priestern im roten Gewand bedroht worden waren. Corenn und Grigän hatten ihn immer wieder davor gewarnt, dass die Boten Zuias eines Tages Rache nehmen könnten. Ein Überfall der Züu hätte ihn also kaum gewundert. Mit den Valiponden hingegen hatten sie seines Wissens noch nie zu tun gehabt.
Im Grunde lag es nahe, ein politisches Motiv hinter dem Angriff zu vermuten, schließlich war seine Mutter eines der höchsten Regierungsmitglieder. Doch die Unbekannten hatten nur nach »dem Jungen« gefragt. Wenn er richtig vermutete, meinten sie damit einen Schüler des Internats im Großen Haus, der dort hoffentlich tief und fest schlief, während Corenn an seinem Bett saß und Grigän vor der Tür Wache hielt.
Amanon wagte noch nicht aufzuatmen, als er unter dem hohen Bogen des Portals hindurch in den Innenhof des Regierungssitzes trat. Den ganzen Weg über hatte er den Griff seines Krummschwerts fest umklammert. Seit seinem Kampf gegen die Valiponden hatte er die Waffe nur einmal aus der Hand gelegt, als er seine blutbefleckten Kleider gewechselt hatte.
Trotzdem bemühte er sich, die beiden Wachposten am Eingang möglichst unbefangen zu grüßen. Er musste
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