Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
sich zwar keine Sorgen machen, nicht durchgelassen zu werden – schließlich war er selbst ein ehemaliger Schüler und hatte Corenn später so oft besucht, dass ihn jeder im Großen Haus kannte. Aber er wollte unbedingt vermeiden, den Wachen erklären zu müssen, was geschehen war. Irgendetwas hielt ihn noch davon ab, Alarm zu schlagen. Bevor ein ganzes Heer Soldaten ausrückte, wollte Amanon wenigstens einen vertrauten Menschen finden. Grigän oder Corenn würden die Angelegenheit in die Hand nehmen. Bei ihrer Erfahrung und ihrem Einfluss in der Hauptstadt wussten sie viel besser als er, was zu tun war. Obwohl er wichtige Entscheidungen stets allein traf, war er klug genug, in schwierigen Situationen andere um Rat zu fragen.
In der Hoffnung, in wenigen Augenblicken bei seinen Eltern zu sein, betrat er das Gebäude und ging die Treppe zur Schreibstube seiner Mutter hinauf. Der Pförtner wusste, dass Corenn oft bis spät in die Nacht arbeitete, und überließ es der Ratsfrau, diesen Flügel des Großen Hauses selbst abzuschließen. Doch zu seiner Bestürzung stand Amanon am Ende der Treppe vor verschlossener Tür.
Hier waren seine Eltern also auch nicht. Noch dazu war keiner von Corenns Schreibern heute länger geblieben. Er war allein, mutterseelenallein.
Schweren Herzens machte er kehrt und durchquerte einen anderen Trakt. Nachdem er unzählige Gänge auf- und abgelaufen war, um einen Raum zu finden, in dem noch Licht brannte, wurde er schließlich fündig. Eine Frau mittleren Alters saß an ihrem Pult und schrieb etwas in ein schweres Buch.
»Verzeiht, Hochverehrte Mutter«, sagte er und trat zögernd näher. »Erkennt Ihr mich? Ich bin Amanon, Corenns Sohn.«
Die Frau schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Natürlich erinnere ich mich an dich, Amanon. Wir sind einander schon vorgestellt worden. Du wirst deinem Vater immer ähnlicher!«
»Danke«, sagte er, obwohl ihm die Bemerkung einen Stich ins Herz versetzte. »Habt Ihr meine Eltern heute gesehen? Ich dachte, dass ich sie zu Hause antreffen würde, aber …«
»Corenn hat heute nicht an der Ratsversammlung teilgenommen. Wir gingen davon aus, dass sie krank ist … Aber soweit ich weiß, hat sie ihren Neffen zu sich gerufen.«
»Cael? Seid Ihr sicher?«
Die Frage war ihm viel zu schnell herausgeplatzt, aber Amanon war zu aufgeregt, um sich noch länger zu beherrschen. Seine Mutter hatte eine wichtige Sitzung versäumt, ohne sich abzumelden? Das war sonst gar nicht ihre Art. Wo konnte sie nur sein? Und was war mit Cael?
»Ich kann Euch gern zum Aufseher der Schlafsäle begleiten«, erbot sich die Ratsfrau, die schon vor Müdigkeit blinzelte. »Er wird Euch sicher mehr sagen können.«
Amanon bedankte sich und folgte ihr durch die Gänge, die er seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Doch die unzähligen Fragen, die ihm im Kopf herumgingen, ließen keine wehmütigen Erinnerungen an die Schulzeit zu. Die Valiponden, das rätselhafte Verschwinden seiner Eltern, das seltsame Interesse an einem Jungen, der niemand anders sein konnte als Cael … In was war er da bloß hineingeraten? Was war in den zwei Monden seiner Abwesenheit passiert?
Er wurde erst aus seinen Gedanken gerissen, als sie vor einer hell erleuchteten Wachkammer standen, in der er den Oberaufseher des Internats erkannte. Es war sicher eine gute Idee, den Mann zu befragen, an dem jeder Schüler beim Betreten oder Verlassen des Großen Hauses vorbeimusste. Doch als er hinter der hilfsbereiten Ratsfrau in die Kammer trat, traf ihn fast der Schlag. Der Aufseher, der gerade einige speckige Spielkarten vor sich auslegte, trug die gleiche Kette wie die Angreifer von vorhin! Im selben Moment schreckte der Mann auf und verschloss hastig den Knopf seines Hemdkragens. Damit war sich Amanon sicher: Er stand einem weiteren Mitglied der mörderischen Sekte gegenüber.
»Der junge Mann hier ist der Sohn von Ratsfrau Corenn«, erklärte seine Begleiterin. »Und er ist der Cousin des Schülers Cael. Könnt Ihr bestätigen, dass er das Große Haus verlassen hat?«
Der Valiponde, ein breitschultriger Mann mit grobschlächtigen Zügen, starrte Amanon eine ganze Weile an, bevor er antwortete. »Das ist richtig«, sagte er kurz angebunden. »Ratsfrau Corenn hat seinen Lehrern mitgeteilt, dass er für ein paar Tage vom Unterricht befreit wird, aber einen Grund hat sie nicht genannt.«
Bleiernes Schweigen trat ein. Amanon wollte schon sein Krummschwert ziehen, um ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sagen, als
Weitere Kostenlose Bücher