Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
dachte er, dass er uns führen würde … Warum, stimmt was nicht?«
»Nein, nein, das ist ein reizender Spaziergang!«, giftete Eryne. »Ich frage mich nur, ob wir ganz Lorelia durchqueren müssen, bevor wir wieder an die frische Luft kommen.«
Ihr Bruder schwieg, was sie nicht weiter wunderte. Nach der ersten Wiedersehensfreude hatten sich die Geschwister erst einmal aneinander gewöhnen müssen, und Nolan war viel distanzierter, als sie erwartet hatte. Er wirkte zwar erwachsener, aber auch seltsam traurig und unnahbar. Vor zwei Jahren hatte jede ihrer Sticheleien einen fröhlichen Schlagabtausch ausgelöst. Diesmal hatte sie in manchen Momenten das Gefühl, mit einem Fremden zu sprechen. Vielleicht war diese Verschlossenheit einfach seine Art, mit ihrer Lage umzugehen, aber sie hatte jetzt mehr denn je das Bedürfnis, getröstet und in den Arm genommen zu werden. Selbst ein handfester Streit wäre ihr lieber gewesen als dieses eisige Schweigen!
So stapften sie, jeder in seine Gedanken versunken, eine ganze Weile durch finstere, gähnend leere Gänge. Neben dem großen »K«, das ihnen den Weg wies, standen manchmal weitere rätselhafte Zeichen von unbekannter Hand, die wohl zu anderen Kellern führten, zu den Schlupfwinkeln von Sekten und Verschwörern, Schmugglerlagern oder den Schlafgemächern treuloser Ehefrauen. Hin und wieder kamen Eryne und Nolan an eisenbeschlagenen Türen vorbei, und in der Decke entdeckten sie immer wieder Falltüren, deren Leitern eingezogen waren.
»Hast du daran gedacht, dass der Ausgang blockiert sein könnte?«, fragte Eryne. »Nach so vielen Jahren …«
»Selbst wenn das der Fall ist, kommen wir schon irgendwie ins Freie«, gab Nolan leicht ungehalten zurück. »Das hier ist schließlich kein Kerker.«
Da war sich Eryne nicht so sicher. Alle Ausgänge, an denen sie vorbeikamen, waren entweder verschüttet, mit schweren Schlössern versehen oder unerreichbar hoch. Ihre Laune sank noch weiter, als sie einen besonders schmutzigen Abschnitt erreichten, der eine Verbindung zu den Abwasserkanälen der Armenviertel haben musste. Das Rinnsal, das in der Mitte des Gangs dahinfloss, stank so entsetzlich, dass sich Eryne sogar den nach Kautabak riechenden Umhang vor die Nase hielt.
Am liebsten hätte sie Nolan die Ohren vollgejammert, doch allein bei der Vorstellung, den Mund aufzumachen und die verpestete Luft einzuatmen, wurde ihr speiübel. Erst als eine riesige Ratte vorbeihuschte und aufgeregt fiepend verschwand, schrie sie unwillkürlich auf.
»Heilige Eurydis, was für ein grässliches Ungeheuer!«, entfuhr es ihr. »Dass es in Lorelia solche Untiere gibt! Das Vieh hätte über uns herfallen können!«
»Der Name der Göttin kommt dir aber leicht über die Lippen. Soll sie dich etwa persönlich vor einem Margolin retten?«, sagte Nolan, ohne stehen zu bleiben.
»Vor einem
Margolin?
Machst du Witze? Das war die größte Ratte, die ich je gesehen habe!«
Verdattert blieb sie stehen, als ihr Bruder herumfuhr und ihr mit der Laterne ins Gesicht leuchtete.
»So, so. Und wie viele Ratten hast du in deinem Leben wohl schon gesehen, Schwesterherz? Ein paar Hundert, nehme ich an? Wahrscheinlich begegnen dir in den fürstlichen Palästen ständig Nagetiere, oder?
Vorsicht, Herr Graf, hinter Euch naht eine wild dreinblickende Maus!«
Er äffte die piepsende Stimme seiner Schwester nach.
»Gebt acht, dass sie Euch nicht an die Kehle geht!«
Wenn irgendjemand anderes es gewagt hätte, sich derart über sie lustig zu machen, wäre sie sofort an die Decke gegangen. Aber ihren Bruder sah Eryne nur fassungslos an – bevor sie laut losprustete. Nachdem sich Nolan so lange todernst gezeigt hatte, war das Eis endlich gebrochen. Lachend fiel sie ihm um den Hals und brachte ihn damit in Verlegenheit.
»Entschuldige …«, stammelte er und drückte sie unbeholfen an sich. »Ich wollte nicht …«
»Klar wolltest du«, sagte sie schelmisch. »Aber das macht nichts. So einen Lachanfall hatte ich bitter nötig.«
Sie lagen sich noch eine Weile in den Armen, bis Eryne das Gefühl hatte, in dem fauligen Gestank des Abwassers zu ersticken. Sanft löste sie sich aus der Umarmung und erwiderte das Lächeln ihres Bruders.
»Lass uns schnell den Ausgang suchen«, sagte sie. »Ich bekomme keine Luft mehr.«
Nolan nickte, ging wieder voran und leuchtete mit seiner Laterne nach den Buchstaben, die ihr Vater in die Wände geritzt hatte. Eine Dezime später erreichten sie eine Falltür am Ende einer
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