Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
Kinder, denen langweilig geworden war, hatten den eiförmigen Stein auf die Seite gekippt, so dass seine Spitze nicht mehr stolz in den Himmel zeigte. Amanon zügelte sein Pferd und saß ab. Hoffentlich war die Kiste unversehrt geblieben!
»Als Kind hat meine Mutter hier am Strand gespielt«, sagte er und hatte dabei das Gefühl, ein Selbstgespräch zu fuhren. »Deswegen hat sie sich diesen Ort ausgesucht, weit entfernt von allem, vom Großen Haus, von Kaul und selbst von Eza. Niemand käme auf den Gedanken, hier zu suchen.«
Cael stieg ebenfalls ab, und Amanon sah sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich allein waren. Weit und breit war kein Mensch in Sicht.
»Hol die Wasserkelle aus meiner Satteltasche«, bat er den Jungen. »Ich brauche etwas zum Graben.«
Während Cael in den Taschen wühlte, zog Amanon einen kleinen Kompass hervor. Das im Matriarchat höchst seltene Instrument war ein Geschenk seines Vaters, das er ihm vor seiner ersten Reise als Übersetzer überreicht hatte. Mit Wehmut dachte er an jenen Augenblick zurück. Jetzt, da er auf den Stein zuging, erinnerte er sich plötzlich an alle Einzelheiten jenes merkwürdigen Tags, an dem sie die Kiste vergraben hatten. Wie sich Corenn gefreut hatte, an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, über den sie zahlreiche rührende Geschichten zu erzählen wusste. Wie sich Grigän zu einem Lächeln hinreißen ließ, was äußerst selten vorkam und sie jedes Mal glücklich machte. Unfassbar, dass ihn nun, zehn Jahre später, ein so trauriger Grund hierherführte, um das Testament seiner Eltern zu holen.
Mit jedem Schritt, der ihn auf das Versteck zutrieb, schien die Vergangenheit schwerer auf ihm zu lasten. Vom Felsen aus musste er zwölf Schritte nach Osten tun, und dann noch einmal zwölf nach Norden. Vermutlich hätte er die richtige Stelle auch so gefunden, denn er hatte noch deutlich vor Augen, wie er und sein Vater die Schaufeln fallen ließen und mit ihren Stiefeln den Sand und die Erde glatt stampften.
Als er sich zwischen den Büschen und wilden Gräsern niederkauerte und anfing zu graben, rannte Cael zu ihm hin, um ihm zu helfen. Mit der Kelle und den bloßen Händen drangen sie immer tiefer in die Erde vor, um das Vermächtnis ihrer Familie ans Licht zu holen. Je länger sie gruben, ohne auf die Kiste zu stoßen, desto unruhiger wurde Amanon. In seiner Erinnerung war das Loch nicht besonders tief gewesen. Oder doch? Mit einem richtigen Werkzeug wären sie schneller vorangekommen.
Verbissen scharrte er weiter, als könnte er so seine Eltern wieder zurückbringen. Er glaubte schon, dass er dieses vermaledeite Testament nie finden würde, da traf die Kelle plötzlich auf einen harten Gegenstand. Amanon warf seinem Cousin einen aufgeregten Blick zu und stocherte hastig in dem Loch herum, bis endlich eine schimmernde Bronzekiste zum Vorschein kam. Er zog sie heraus, fegte mit der Hand die Brocken Erde weg, die seit einem Jahrzehnt an ihr hafteten, und stellte erleichtert fest, dass die Zeit ihr nichts hatte anhaben können. Dann stellte er sie vor Cael, der sie verblüfft anstarrte, in den Sand. Amanon war zu aufgewühlt, um sie sofort zu öffnen.
»Das ist es also?«, fragte Cael. »Und was ist da drin?«
Amanon musterte die Kiste, die nicht besonders groß war.
»Ich weiß es nicht«, sagte er nach einer Weile. »Ein Brief, schätze ich.«
Bevor er noch länger darüber nachdenken konnte, hob er die Kiste hoch und öffnete den Deckel. Im Innern befand sich eine kleine Schatulle aus kostbarem Holz. Amanon erinnerte sich sofort daran: Sein Vater hatte sie geschnitzt. Behutsam öffnete er die Schatulle und drehte sie um. Was ihm in die Hand fiel, verblüffte ihn über alle Maßen.
Statt eines Testaments hatte ihm Corenn ein ganzes Buch hinterlassen, genauer gesagt mehrere Hefte in einem Einband, deren Seiten mit sonderbaren Zeichnungen und der feinen, unverwechselbaren Handschrift seiner Mutter bedeckt waren.
Sie bargen ein Geheimnis, das über Leben oder Tod entscheiden würde.
***
In Lorelia war es Abend geworden, und die Schatten der Paläste, Bürgerhäuser und Stadtmauern wurden länger. In der Unterstadt rings um den alten Hafen schien es rascher dunkel zu werden als in den anderen Vierteln. Der sechste Dekant war noch nicht zu Ende, da füllten sich die Wirtshäuser bereits mit Betrunkenen, Tagedieben und vergnügungssüchtigen Edelleuten. In der Straße der Bartscherer endete ein Streit mit einem Mord. Die
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