Die Krieger 4 - Das Geheimnis der Pforte
eigene Faust zum Boot zurückfinden.
Das Netz aus unterirdischen Gängen war in der Tat ein Labyrinth, ganz anders als die Höhlen auf Ji. Manche Stollen wirkten, als wären sie von Menschen gegraben oder befestigt, wie der Tunnel, durch den Saats Armee nach Ith gelangt war. Doch der Zahn der Zeit nagte auch hier an allem, und so unterschieden sich die natürlichen Gänge und Höhlen kaum mehr von den künstlich geschaffenen. Wenn Niss ihrer Einbildungskraft freien Lauf ließ, kam ihr der Ort nahezu verzaubert vor, wie ein Reich voller geheimer Gänge, die in andere Welten oder andere Zeiten führten.
Doch Kälte, Hunger und Angst holten sie bald auf den Boden der Tatsachen zurück, und Niss sah ihre Umgebung wieder als das, was sie wirklich war: ein Gewirr aus unterschiedlich großen Höhlen und Gängen aus rauem, vor Feuchtigkeit glitschigem Fels. Es war schwer vorstellbar, dass hier einst ein ganzes Volk gelebt hatte.
Andererseits wussten sie nicht mit Sicherheit, dass die Etheker tatsächlich hier gehaust hatten. Nach der ersten Inschrift hatten die Erben noch mehr Zeichen gefunden, doch je weiter sie ins Innere des Gebirges vordrangen, desto seltener wurden die fremdartigen Symbole. Entweder waren in diesen Tiefen alle Spuren der ethekischen Kultur verblasst, oder die Etheker hatten sich nur ab und an in diesen Teil des Labyrinths vorgewagt, um die Pforte aufzusuchen. Bei näherem Überlegen fand Niss das recht logisch. Gewiss hatten die Familien oder Klans damals in jenen Höhlen gelebt, die sich in der Nähe der Getreidefelder und Viehweiden an den Hängen des Blumenbergs befanden.
Als sie wieder einmal an eine Abzweigung kamen, gewährte ihnen Amanon eine wohlverdiente Pause. Erleichtert wärmte sich Niss die Hände über einer Lampe. Leider konnten sie kein richtiges Feuer machen, denn der Rauch wäre zu auffällig gewesen. Aber auch ein kaltes Frühstück tat ihrem leeren Magen gut.
Doch was Nolan nach einer Weile zur Sprache brachte, verdarb ihr den Appetit.
»Unser Ölvorrat wird nicht mehr lange halten«, sagte er. »Wir sind so überstürzt aufgebrochen, dass wir vergessen haben, unsere Ausrüstung zu überprüfen.«
»Ich weiß«, entgegnete Amanon. »Wir sollten sparsam mit unseren Vorräten umgehen. Vielleicht lassen wir von jetzt an nur noch zwei Lampen brennen.«
»Und wenn uns das Öl trotzdem ausgeht?«, warf Keb ein. »Dann sitzen wir plötzlich im Dunkeln.«
Amanon zuckte ratlos die Schultern, zwang sich aber zu einem Lächeln, als er sich zu Niss und Eryne umwandte. »Irgendwie kommen wir hier schon wieder heraus«, versuchte er sie zu beruhigen. »Unser Vorrat reicht bestimmt. Ich glaube nicht, dass der Friedhof der Etheker weit von ihren Wohnhöhlen und den Hängen des Blumenbergs entfernt ist. Wir sind sicher bald da.«
Niss fiel auf seine vorgetäuschte Zuversicht nicht herein. Die drei Pforten, von denen die Erben wussten – die Pforten auf Ji und im Land Oo sowie der Große Sohonische Bogen –, lagen fernab menschlicher Siedlungen. Warum sollte die Pforte von Ith eine Ausnahme sein?
Während sie sich vorstellte, wie die Begräbnisprozessionen der Etheker durch diese Gänge zogen, um die Verstorbenen ins Jal zu bringen, kam ihr plötzlich noch etwas anderes in den Sinn. Nicht ohne Grund hatten die Menschen die Pforten gefürchtet und sich lieber in einiger Entfernung angesiedelt.
Sie waren vor den Ewigen Wächtern geflohen.
Die Erben gingen davon aus, dass auch die Pforte von Ith von einem Ungeheuer bewacht wurde, doch das hatte sie nicht von ihrer Suche abgehalten. Vielleicht waren sie ihrem Ziel schon ganz nah, vielleicht würden sie bald wieder mit ihren Familien vereint sein – das war jedes Risiko wert. Und war nicht auch Eryne eine Göttin? Wenn ihnen tatsächlich eine Kreatur aus dem Karu auflauerte, würde sie sich dem Befehl einer Unsterblichen beugen müssen, so wie der Leviathan Zuia gehorcht hatte.
Eine Weile hatte die Sorge um Cael alle diese Überlegungen verdrängt, aber jetzt wurde die Gefahr plötzlich greifbar. Bei dem Gedanken, dass sich im fahlen Schein ihrer Lampen oder gar in völliger Finsternis jeden Moment ein abscheuliches Ungeheuer auf sie stürzen könnte, lief es Niss eiskalt über den Rücken.
***
Irgendwo in seinem Kopf klagte eine dünne Stimme, aber daran hatte er sich schon fast gewöhnt. Sie war wie ein dumpfer Schmerz, der einem nur dann auffiel, wenn man sich darauf konzentrierte. Seit er beschlossen hatte, sie zu ignorieren, war ihm
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