Die Kristallhexe
nahm sie eine der leeren Tassen und stülpte sie über den Kristall. Am Henkel zog sie beides nach unten.
Das funktionierte. Sie konnte den Kristall mit der Tasse bis auf die Tischplatte drücken. Einige Sekunden drückte der Kristall von unten gegen den Tassenboden, dann spürte Angela nichts mehr. Lautlos zählte sie bis zehn, dann hob sie die Tasse hoch.
Der Kristall lag auf der Tischplatte. Da die Sonne ihn nicht mehr beleuchtete, wirkte seine rote Farbe rostig und stumpf. Misstrauisch betrachtete Angela ihn einige Sekunden, aber als sich nichts regte, wandte sie sich ab - und fuhr direkt wieder herum. Eine Bewegung, die sie nur aus den Augenwinkeln gesehen hatte, ließ sie das Schlimmste befürchten - zu Recht, denn träge stieg der Kristall wieder auf.
In der gleichen Position, die er zuvor eingenommen hatte, hing er vor ihr. Angela schluckte ihren Ärger mühsam hinunter. Nicht der Kristall trug die Schuld an seinem Verhalten, sondern sie, das war ihr klar. Trotzdem hätte sie ihn am liebsten angeschrien.
Dann sieht Alberich ihn eben, dachte sie trotzig. Es sind meine Kräfte, nicht seine. Ich kann damit machen, was ich will.
Doch in Wirklichkeit ging es ihr längst nicht mehr um Alberich und das, was er sagen würde, sondern um etwas Essenzielleres: die Kontrolle über ihre Kräfte. Obwohl sie gerade erst begonnen hatte, mit ihnen zu experimentieren, strebte sie bereits nach Perfektion. Ein Teil von ihr warnte vor zu viel Ehrgeiz, der andere, wesentlich größere Teil feuerte sie an.
Angela ignorierte die leisere Stimme. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe, dann hob sie den Kopf und streckte die Hand aus. »Gib mir einen Knüppel!«
Sie hatte den Mund noch nicht wieder geschlossen, als ein unterarmlanger Knüppel aus hartem Holz in ihrer Hand erschien. Er sah aus wie ein Baseballschläger, war nur deutlich kürzer. Angela wog ihn, dann holte sie probeweise damit aus und schwang ihn ein-, zweimal. Das Fenster war groß genug, um den Kristall hindurchzuschießen. Wenn sie sich richtig positionierte ...
Ein weiteres Mal holte sie aus, den Blick fest auf den Kristall gerichtet. Wollen wir doch mal sehen, wer diesen Kampf gewinnt, dachte sie und schlug zu.
Sie traf.
Der Kristall schoss durch das Zimmer und knallte mit seiner flachen Seite gegen den Fensterrahmen, prallte davon ab und wurde zurückgeworfen. Wie ein Querschläger schoss er durch den Raum. Angela duckte sich erschrocken hinter einen Stuhl, als der Kristall zwei Tassen auf dem Tisch zertrümmerte und ungebremst weiterraste.
Bildete sie sich das ein, oder wurde er immer schneller?
Seine Spitze schlug gegen die Wand, hinterließ tiefe Kratzer im Stein. Funken sprühten, dann prallte er von einer Kante ab und schoss weiter durch den Raum. Er war so schnell, dass sie ihm kaum mit dem Blick folgen konnte.
Angela ließ den Knüppel fallen. Auf einmal erkannte sie die Gefahr, in der sie schwebte.
Die Spitze des Kristalls war geformt wie die eines Pfeils. Wenn sie solche Kratzer in hartem Stein hinterließ, was würde dann erst geschehen, wenn sie auf weiches Fleisch traf?
Ich muss hier raus! Angela packte den Stuhl an der Lehne. Weniger als einen Schritt von ihr entfernt bohrte sich der Kristall in den Teppich, raste so schnell darüber hinweg, dass die Wolle zu qualmen begann.
Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, aber dort wollte Angela nicht hin. Sie musste Alberich warnen, bevor er nichts ahnend den Raum betrat. Drei Schritte trennten sie von der Tür zum Gang. Sie hob den Stuhl hoch, schützte ihren Kopf mit der Lehne und lief los. Der Kristall prallte neben ihr gegen die Wand, drehte sich ...
... und die Zeit schien stillzustehen.
Angela sah, wie sich die Spitze auf sie richtete. Sie befand sich in Höhe ihrer Brust, genau dort, wo es eine Lücke zwischen der Lehne des Stuhls und seiner Sitzfläche gab. Obwohl die Zeit so langsam ablief, konnte sie sich nicht schneller bewegen. Was auch immer sie tat, das erkannte sie in diesem Moment, es würde zu spät sein. Der Kristall würde sie treffen.
Sie sah das Blitzen des Kristalls, als ein Sonnenstrahl ihn traf, hörte ihren eigenen hämmernden Herzschlag, und plötzlich lief die Zeit wieder normal ab. Die Spitze schoss auf Angela zu.
Ein Flirren vor ihrem Gesicht. Ein dumpfer, harter Laut.
Der Knüppel hing vor Angela in der Luft. Der Kristall hatte sich so tief in das Holz gegraben, dass er es gespalten hatte. Einen Augenblick lang glaubte Angela, dass sie den Knüppel mit
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