Die Krone von Lytar
Stelle waren die Bodendielen deutlich heller und weniger abgenutzt, viele der alten Balken wiesen schwärzliche Verfärbungen auf, und an der Theke sah man noch einen großen dunklen Fleck. Jetzt wusste Lamar auch, dass der massive Stuhl, der dort an der Wand lehnte, der Stuhl des Bürgermeisters war, und er erschauderte, als er davor die verkohlten Bodendielen erblickte, die man noch immer nicht ausgetauscht hatte.
»Hass folgt auf den Krieg, wie die Nacht auf den Tag«, sagte Lamar leise.
»Ein altes, aber nur allzu wahres Sprichwort. Ja. Aber Hass ist nicht weniger hässlich als der Krieg selbst«, antwortete der alte Mann und seufzte. »Jedenfalls waren am Mittag die Toten vom Marktplatz zum Schrein der Mistral hinaufgetragen worden, wo sie gewaschen und aufgebahrt wurden. Außerhalb des Gasthofs war nun nichts mehr zu sehen von dem, was am Vortag geschehen war. Nur die traurigen Blicke derer, die in diesem Krieg ihre Lieben verloren hatten, waren allgegenwärtig, ebenso wie der Hass, der aus der Trauer erwuchs.«
Der folgende Tag hätte der letzte des Mittsommerfestes sein sollen, doch nach Feiern war niemandem zumute. Abermals kamen die Menschen des Tals auf dem Tempelhügel zusammen, um ihre Toten zu begraben. Der Priester, Barius und Ariel wirkten erschöpft, ebenso wie Elyra, bei der sich die Strapazen jedoch noch in anderer Weise niederzuschlagen schienen. Ihre Haut wirkte nun fast durchscheinend und sie selbst noch zierlicher als zuvor. Dennoch machte es den Eindruck, als wäre sie zugleich auch gewachsen. Wenn es Mistral missfiel, dass auf ihrem geheiligten Grund auch Priester anderer Götter predigten, zeigte sich dies nicht.
Die Predigten selbst waren, wie Pulver es später ausdrückte, interessant.
Ariel bat seine Göttin um nichts anderes als Frieden und Ruhe für die Toten und Lebenden. Der junge Priester beschwor Erion, den Menschen beizustehen, damit sie, von Wissen und Weisheit geleitet, den Krieg von der Welt verbannen mögen.
Elyra predigte von Gnade und Vergebung und bat die Menschen, den Hass von sich zu weisen und der Weisheit der Herrin zu vertrauen, die das Böse richten wird. Sie sprach vom friedlichen Miteinander und davon, dass die Verheißungen der Rache nichts seien gegen die Hoffnung auf Frieden. So erreichte sie mit ihrer klaren Stimme viele der verbitterten Herzen und rührte sie.
Doch Barius’ Predigt donnerte im Anschluss daran wie eine Kavallerieattacke über die Gläubigen hinweg, sprach von Verantwortung und Schutz, von Ehre und Genugtuung. Die Leute waren überrascht von der Intensität seines Gebets, doch verstanden viele nicht, was er meinte, denn er verwendete Wörter, die den meisten unbekannt waren. Als er dies bemerkte, hielt er mitten in seiner Predigt inne und holte tief Luft.
»Was ich meine«, sagte er dann, »ist, dass wir die Schuldigen nur dann werden bestrafen können, wenn wir zusammenhalten!«
Das konnten die Leute wieder verstehen. Es wurden Rufe laut wie »Jawohl!« oder »Denen zeigen wir’s!«, und eine Menge Schwerter wurden auf Schilde geschlagen. Niemand konnte sich daran erinnern, in Lytara so viele Leute unter Waffen gesehen zu haben. Niemand, bis auf die Hüter.
Nach dem gemeinsamen Gottesdienst lehnte die Sera Meliande an dem kleinen Schrein der Mistral und sah über das Dorf ins Tal hinaus. Garret, der den größten Teil des Gottesdienstes an Vanessas Seite neben Tarlon und Hernul kniend zugebracht hatte, sah die Hüterin dort stehen und ging zusammen mit Vanessa zu ihr hinüber. Er zögerte, das Wort an sie zu richten, so tief schien sie in Gedanken versunken, also sah er sie nur fragend an.
Aber es war, als würde die Sera durch ihn hindurchblicken. Garret zog Vanessa näher zu sich heran und verharrte schweigend. Er selbst verspürte eine unendliche Dankbarkeit gegenüber den Göttern, die Lytara in dieser dunklen Nacht beigestanden hatten. Dass er Vanessa, die auf wundersame Weise geheilt worden war, in seinen Armen halten konnte, erschien ihm als das größte Geschenk. Aber er fühlte auch ihre Trauer um die Mutter, die sich für sie geopfert hatte. So hielten sie einander fest und blickten gemeinsam über das friedlich wirkende Tal.
»So beginne es denn«, sagte die Sera mit einem Mal leise und mit Tränen in den Augen. Garret wollte sie gerade fragen, was sie damit gemeint hatte, als sie plötzlich aufsprang.
»Nein, das werdet ihr nicht tun!«, rief sie empört.
Wie er mit Erstaunen feststellte, war sie plötzlich in eine
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