Die Krone von Lytar
kurzen Moment schien es Garret, als sähe er da nicht dieses immer noch jugendliche Gesicht, sondern einen Totenschädel mit trockener gelblicher Haut, aufgerissen und aufgeplatzt, die vollen Lippen kaum mehr als eine Erinnerung an den blanken toten Zähnen.
Es war nur ein kurzer Augenblick, aber er sah es nicht allein, auch die anderen zuckten zurück. Entsetzt starrten die Freunde sie an, aber Elyra sprang auf und umarmte die Sera Meliande.
»Mir ist das egal, hört ihr!«, sagte Elyra. »Es ist nicht recht von uns, vor ihnen zurückzuschrecken, wenn sie uns nur Gutes tun!« Eine Bewegung im nahen Gebüsch ließ sie aufblicken, und sie rief: »Nein, nicht!«
Garret sprang auf und griff nach seinem Bogen, doch es war schon zu spät. Er sah nur noch, wie Marten Dunkelfeder, der Sohn des Bürgermeisters, aus seiner Deckung kam, den Bogen spannte und den Pfeil abschoss. Sein Ziel war die Sera Meliande, ungeachtet dessen, dass sich Elyra schützend vor sie geworfen hatte.
»Nein!«, rief Tarlon und streckte die Hand aus, als ob er den Pfeil so abwehren könnte.
Die Sera jedoch warf Elyra zur Seite und fing das Geschoss mit einer fast nachlässigen Bewegung in der Luft ab. Nachdenklich sah sie auf den Pfeil in ihrer Linken herab, während sie mit dem anderen Arm Elyra hielt, die hemmungslos weinte. Dann blickte sie dem Schützen nach, der in Windeseile flüchtete.
»Komm zurück!«, rief sie. »Es tut mir leid!«
Was genau ihr leid tat, sagte sie nicht, und Garret achtete auch nicht darauf. Er rannte bereits. Obwohl Garret ein außergewöhnlich schneller Läufer war, war Marten dieses eine Mal schneller. Er rannte, als wären die Dämonen dieser Welt hinter ihm her … und in seinen Augen sah es sicherlich auch so aus.
»Marten!«, rief Garret entsetzt, als er bemerkte, in welche Richtung der junge Mann lief. »Das ist die falsche Richtung! Komm zurück! Dort lauert nur der Tod!«
Doch der junge Mann rannte weiter.
»Also doch, Untote!«, rief Lamar. »Ich wusste es!«
»Seid nicht voreilig mit Euren Schlüssen, Freund«, lächelte der alte Mann. »Und versucht nicht immer, die Geschichte zu erraten. Lasst sie mich Euch einfach erzählen!«
Garret holte Marten nicht ein, aber an einer Stelle fand er im feinen Sand einen Abdruck. Das Licht der beiden Monde war gerade hell genug, um eine Kerbe in der Spur des Absatzes zu erkennen. Garret hielt nur kurz inne und folgte dann Martens Spuren weiter in den dunklen toten Wald hinein, bis er sie zwischen den Bäumen verlor. Obwohl der Morgen nahte, war es noch zu dunkel, um Martens Spuren weiterverfolgen zu können, aber er war schon zu tief im Wald. Noch einmal rief Garret seinen Namen, aber er antwortete nicht. Um Garret herum waren nur der tote Wald und dessen unnatürliche Stille.
Besorgt kehrte Garret um. Marten kannte das Tal ebenso gut wie er selbst. Marten wusste, dass er nur die alte Handelsstraße finden musste, um sicher zum Dorf zurückzukehren.
Hoffentlich, dachte Garret, weist ihm die Göttin den Weg. Und wenn sie das tat, dann würde es auch bald an der Zeit sein, mit Marten über einen gewissen Falken zu sprechen.
Beim Depot erwarteten ihn die anderen voller Sorge. Tarlon sah ihn fragend an, und Garret schüttelte nur den Kopf.
»Er ist in den Wald gelaufen, nicht wahr?«, fragte Elyra leise.
»Ja, in die Richtung der alten Stadt«, antwortete Garret.
»Aber vielleicht hat er Glück. Wir haben die Hunde ja auch nicht mehr gesehen«, meinte Argor.
»Das wollen wir hoffen«, sagte Tarlon.
»Ja, das hoffe ich auch. Marten ist nicht dumm«, bekräftigte Garret.
»Sollten wir ihm nicht nacheilen?«, fragte Vanessa, aber Garret schüttelte den Kopf.
»Er hätte nicht vor mir davonrennen müssen. Ich weiß nicht, warum er es getan hat.«
Ranath legte Vanessa beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Er wird sicher euer Dorf erreichen«, sagte sie.
Ihre Hand fühlte sich warm an und echt, dachte Vanessa.
Ranath strich ihr leicht übers Haar. »Ich weiß es«, sagte sie dann leise.
»Warum seht Ihr mich so an?«, fragte Vanessa zögerlich.
»Weil du mich so sehr an meine Tochter erinnerst.« Ranath lächelte und tippte mit der Fingerspitze auf das Symbol des Bären an Vanessas Rüstung. »Du und Tarlon, ihr seid unser Blut.«
Die Freunde waren beruhigt zu hören, dass Marten nichts Schlimmes widerfahren würde, und sie glaubten der Sera, denn ihre Worte hatten den Klang von Wahrheit. Da sie es nicht erklären konnten, musste es wohl eine
Weitere Kostenlose Bücher