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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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und hat dem widersprochen. Er hatte eine Tabelle, die bewies, dass die sogenannten Rowdys vom 4 . Juni alle eine blütenreine Weste hatten und nur eine extreme Minderheit von ihnen im polizeilichen Führungszeugnis etwas von Umerziehungslager stehen hatte. Das hat international eingeschlagen wie eine Bombe.
    Ich glaube, dass dieser Mann, der ja in der Kommunistischen Partei war, ein viel besserer Kerl war als viele aus der Elite der Exilanten im Ausland. Er hatte wenigstens den Mut, die Wahrheit zu sagen, ganz egal aus welchen Motiven. Das ist sechzehn Jahre her, aber wer hat denn jemals für diese Rowdys auch nur ein gutes Wort eingelegt? Das waren doch alles ganz normale Bürger aus Beijing, die hatten ihre Stärken und ihre Schwächen, sie waren empört und haben spontan etwas getan. Ein paar Steine geworfen, ein paar Flaschen, einen Korb; sie haben sich den Konvois in den Weg gestellt, Reden gehalten, die Luken der Panzer aufgestemmt, aber nur aus dem einen Grund, dass die Truppen nicht in die Stadt einrücken und die Studenten umbringen. Nachher haben sich die Studenten vom Tiananmen zerstreut, das wurde von den westlichen Medien zum Hauptthema des »Tiananmen-Zwischenfalls« gemacht und sie zu den Hauptpersonen. Aber das wirkliche Thema und die wirklichen Hauptpersonen blieben im historischen Dunkel.
    Da war dieser Behinderte, der über zehn Jahre bekommen hat; ich fand das seltsam und wollte die »Urteilsbegründung« lesen – dort stand: »Hat mit einem Ledergürtel wild auf Panzer eingeschlagen und ging dann erhobenen Hauptes davon …«
    Ein anderer hatte eine Stahlahle aufgehoben, der hat auch zehn Jahre bekommen; noch ein anderer hielt einen Versorgungswagen der Armee auf und hat die Nahrungsmittel an die Studenten und die Stadtbevölkerung verteilt – das war Zhu Gengsheng, der hat das alles ohne den geringsten Eigennutz einen halben Tag lang verteilt, dann war der Wagen leer, aber er selbst hatte nichts zu essen ergattert. Er suchte alles ab, bis er in irgendeiner Ecke ein Brathuhn entdeckte. Zu seiner Überraschung tauchte dieses Brathuhn in seiner »Anklageschrift« auf und brachte ihm dreizehn Jahre ein, so dass er jeden Tag, den er im Gefängnis war, klagte: »Das war ein teures Brathuhn!«
    LIAO YIWU:
    Dass du mit den anderen »Rowdys« zusammen warst, war nicht schlecht.
    WU WENJIAN:
    Sie alle hatten ein bitteres Los, und so haben wir zusammen geschuftet.
    LIAO YIWU:
    Was für eine Art Arbeit?
    WU WENJIAN:
    Alles Mögliche. Zum Beispiel haben wir Plastikhandschuhe überprüft, die man für Reinigungsarbeiten oder bei Operationen benutzt: Die hat man an den Mund gesetzt, sie aufgeblasen und nachgesehen, ob irgendwo Luft entweicht. Das ist unglaublich anstrengend. Wir hatten so einen großen Dicken, der hat das nicht ausgehalten, der hat sich in die dicke Fettschwarte an seinem Bauch Nadeln gehauen – und weil er so dicke Flossen hatte, hat er sich dabei ziemlich ungeschickt angestellt. Selbstmord war kontererzieherisches Verhalten, also hat man sich mit Nadeln selbst verstümmelt. Wu Xuecan, der Redakteur von der
Renmin ribao,
war auch einer meiner Leidensgenossen. Wir haben Schafwollhemden genäht, er hat geholfen, die überstehende Wolle zu schneiden. Nach über einem Jahr war ich so geübt, dass ich den Faden hinter meinem Rücken einfädeln konnte.
    LIAO YIWU:
    Für welche Kleiderfabrik habt ihr denn gearbeitet?
    WU WENJIAN:
    Die Beijinger Freundschaft. Im Sommer haben wir Winterklamotten genäht, im Winter Sommerklamotten, der Wollflaum flog nur so im Zimmer herum, die Slips waren von Schweiß durchnässt. Verdammte Scheiße, ich hätte die Fabrik liebend gerne in Einzelteile zerlegt. Ich hab’ es nicht mehr ausgehalten und bin in Hungerstreik getreten, vier Tage lang, dann haben sie mich gewarnt: »Willst du Bastard wirklich nichts essen? Es reicht, wenn du so tust.« Und husch haben sie mir eine Schinkenwurst unter die Bettdecke geschoben.
    Ich bin 1995 rausgekommen, ein paar Monate haben sie mir erlassen. Mein Vater hätte es sich nicht träumen lassen, dass er so lange würde warten müssen, um seinen Sohn wiederzusehen, aber sein Glaube an die Partei war unverändert, er wollte kein Wort gegen die Regierung sagen. Er hat mich wieder gewarnt: »Wenn du das noch mal machst, ist das mein Tod.« Was sollte ich machen, er verstand immer noch nicht, aber er war mein Vater.
    Die Rowdys vom 4 . Juni sind nach und nach entlassen worden, das ging ganz ohne Aufhebens, dem wurde nicht die

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