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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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wir haben uns oft unterhalten. Sein Vater war früher ein kleiner Kader im Postamt von Beijing, ist in der Kulturrevolution aufs Land verschickt worden zur Umerziehung und hat sich das Leben genommen. Damals sagte ich zu ihm: »Weißt du, warum du noch am Leben bist? Weil dein Vater dich insgeheim schützt! Nur ein Sohn, und wenn es den nicht mehr gibt, dann gehen die Räucherkerzen am Ahnenaltar aus.« Er sagte dazu, »das macht Sinn«, sonst hatte er keine Erklärung, dass er davongekommen war.
    LIAO YIWU:
    Ich habe nach und nach mit über zwanzig Todeskandidaten in einer Zelle gesessen, ich weiß, dass man leichter in den Himmel kommt als dass sie einem die Todesstrafe umwandeln, das Los dieser Leute ist reichlich hart.
    WU WENJIAN:
    Unter den sogenannten Rowdys waren auch noch ein paar Soldaten im Ruhestand, die haben ganz naive Vorstellungen gehabt: Weil sie selbst Soldaten gewesen waren, wollten sie natürlich nicht, dass ihre jetzigen Kollegen von den Massen Prügel bezogen; aber sie wollten auch nicht, dass man auf die unschuldigen Studenten mit Gewehren losging, deshalb haben sie sich im entscheidenden Augenblick den Militärkonvois in den Weg gestellt – Resultat: Todesstrafe auf Bewährung und lebenslänglich.
    LIAO YIWU:
    Hast du im Vergleich das Gefühl, noch Glück gehabt zu haben?
    WU WENJIAN:
    Wenn man neunzehn ist und sieben Jahre bekommt, hat man natürlich Glück gehabt. Sie haben mich damals in einem Gefangenentransporter zu einem Gerichtshof der mittleren Ebene geschafft, dort ging es in einen Raum im Untergeschoss, wo mich die Gerichtspolizei direkt in einen Eisenkäfig gesteckt hat: Das Theater konnte beginnen.
    Da ich jetzt davon spreche, das Ganze war wirklich würdelos, die Zimmer beiderseits des Zimmers im Untergeschoss waren proppenvoll, der Richter sah aus, als hätte er es mit der Blase, und fing gleich im Korridor mit der Verhandlung an. Der Verteidiger war ebenfalls bestellt, das Prozedere war schnell abgewickelt, er sagte etwas von »noch jung an Jahren, hat keine Ahnung, bitte um eine leichte Strafe«.
    LIAO YIWU:
    Wie lange hat die Verhandlung gedauert?
    WU WENJIAN:
    Etwas über eine Stunde, dann hieß es, man vertage sich bis zur Urteilsverkündung; nach über einem Monat gaben sie mir die »Urteilsbegründung«. Ich war ein bisschen durcheinander, dachte, wenn ich aus dem Knast komme, bin ich erst sechsundzwanzig, und stellte mich darauf ein. Später, als ich im Knast war, hatte ich im Vergleich mit den Leuten um mich herum noch mehr das Gefühl, dass es sich lohnte. Viele von den anderen hatten überhaupt nichts gemacht, die hatten nur in der Menge gestanden und geplappert und waren aufgeregt, die hatten sieben, acht oder über zehn Jahre abzusitzen.
    Aber als das Urteil kam, habe ich doch Einspruch erhoben, vor allem, um die Zeit in die Länge zu ziehen, ich hatte Angst vor dem Umerziehungslager. Das Revisionsverfahren war dann auch ganz regulär, auf jeden Fall fand es in einem Zimmer statt. Ich hatte keinen Anwalt bestellt und habe mich selbst verteidigt: »Ist Zhao Ziyang nicht unser Generalsekretär? Wenn man nicht auf ihn hören soll, auf wenn soll man denn hören? Damals ging es im ganzen Land herum, dass Li Pengs Regierung illegal ist – ich bin doch auch ein Opfer. Ihr verurteilt mich jetzt, aber warum habt ihr am Anfang nicht dafür gesorgt, dass die Gerüchte sich nicht verbreiten?«
    Der Richter kam gar nicht dazu, mir zu widersprechen, der asthmatische Schöffe neben ihm fiel mir mit seiner Altweiberstimme ins Wort: »Schau uns an, wir haben seinerzeit die Richtung beibehalten können und uns nicht beeinflussen lassen!«
    Ich sagte: »Ihr vom Gericht habt doch auch demonstriert, alle haben demonstriert, Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter, das ganze System, ihr habt einen besseren Einblick in die Politik, warum seid ihr nicht auf die Straße gegangen und habt dem Einhalt geboten? Jetzt verurteilt ihr mich, dazu gehört nicht viel!«
    Ich hatte es kaum gesagt, da schlug der Beisitzer auf den Tisch und wurde auf der Stelle zu einer zänkischen Furie: »Ich werde nicht mit einem Abschaum wie dir debattieren!«
    Aber ich schaltete auf stur: »Ihr sagt, ich hätte ›versucht, die Diktatur des Proletariats zu stürzen‹, ich bin erst neunzehn, meint ihr wirklich, ich könnte das?«
    LIAO YIWU:
    Das ist wirklich eine skurrile Geschichte, dabei hat auch nicht das Gericht über die Verurteilung entschieden.
    WU WENJIAN:
    Stimmt, das war alles schon weiter oben

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