Die Kugel und das Opium
weggeschafft, eingesperrt, und die einzelnen Ausstellungsbereiche wurden verboten. Doch Aktionskunst als Widerstand wurde dadurch einem breiten Publikum bekanntgemacht und wurde von der avantgardistischen Jugend enthusiastisch aufgenommen.
Analog dazu bildete die Zerstörung des Mao-Bildes durch die drei Krieger aus Hunan wohl den Höhepunkt der Aktionskunst seit Errichtung der Herrschaft der Kommunistischen Partei 1949 . Wie lange das auch her sein mag, die vielfältige Bedeutung dieser Aktion und der grausame Preis, den die Akteure dafür bezahlen mussten, ist es wert, von den Kunsthistorikern in ihren Büchern festgehalten zu werden, ist es wert, dass man darüber nachdenkt, ob man mit Politik nichts mehr zu tun haben will oder sich enthusiastisch in sie einmischt.
Ende 2005 habe ich die E-Mail eines Freundes erhalten, in der er nachfragte, ob ich Interesse hätte an einem Interview mit Yu Zhijian, dem Hauptverschwörer bei dieser Kunstaktion. Mein Freund fügte seufzend hinzu: Der andere, Yu, hat den Verstand verloren, und der Dritte, Lu, ist abgehauen, nur Yu Zhijian hält hier noch die Stellung. Wenn du interessiert bist, dann solltest du die Gelegenheit beim Schopf packen.
Ich bejahte das mehrfach. Und über viele Ecken habe ich Yu schließlich über seine Schwester selbst ausfindig gemacht. Am anderen Ende der Leitung machte der Junge einen offenherzigen und behutsamen Eindruck, glücklicherweise kannte er meine Bücher, so dass es keinerlei Kommunikationsprobleme gab. Doch dann gab es Schwierigkeiten, Yu wurde wegen »konterrevolutionärer Artikel« im Internet unter Hausarrest gestellt! Er könne sich nicht von der Stelle rühren, sagte er, sie lassen mich nicht einmal zu Yu Dongyue, meinem Mitstreiter, der den Verstand verloren hat.
Das zog sich bis in den Juni. Weil wir denselben Stallgeruch haben, kam ich in engeren Kontakt mit Ban Zhongyi, der in Lijiang in Yunnan Wurzeln geschlagen hatte. Der gute Ban drehte auf eigene Faust Dokumentarfilme, und sein Mut, seine Kenntnisse und sein Bekanntheitsgrad im In- und Ausland waren seit über zwanzig Jahren bereits recht hoch. Er ging einer Untersuchung der Opfer von sexueller Gewalt bei der Besetzung Chinas durch die Japaner nach und brachte sein Herzblut seit über zehn Jahren in den Dokumentarfilm »Gai Shanxi und ihre Schwestern« ein, bei dem ich vor Begeisterung in die Hände klatschte. Deshalb bat ich ihn, bei diesem Interview dabei zu sein und den gesamten Ablauf des Gesprächs aufzunehmen.
Dankenswerterweise sagte er zu und bereitete sich voller Eifer vor.
Es war nicht wie sonst. Schon viele Tage vorher habe ich mit Yu Zhijian die Art und Weise unseres Zusammentreffens festgeklopft. Falls sich in letzter Minute etwas ändern sollte, sollte er mir Bescheid geben. Parallel dazu benutzte ich eine neue Telefonkarte und schärfte dem guten Ban alles genau ein. Dann bin ich von Lijiang in Yunnan zurück nach Chengdu, um nach meiner alten Mutter zu sehen. Am Abend des 9 . Juni habe ich auf dem Flughafen von Shuangliu einen Anruf von Ban bekommen – auch über eine neue Nummer –, das bedeutete, zwischen uns war eine streng geheime Form der Kontaktaufnahme entstanden.
Als der Linienflug um 19.20 Uhr auf dem Flughafen Changsha ankam, war der Himmel bereits sternenübersät. Die Mondsichel war wie ein Irrlicht. Ich saß in einem Überlandbus in die Stadt und wählte unterwegs die neue Nummer von meinem guten Ban, aber sein Handy war immer ausgeschaltet. Anfangs dachte ich, er sei noch in der Luft, oder er hätte sich verspätet. Aber dann schlug mein Herz wie eine Trommel, ich kam gar nicht mehr herunter.
Mein alter Freund Zhang holte mich mit dem Wagen ab, wir nahmen einen nächtlichen Imbiss zu uns und zogen bei ihm zu Hause ein. Ich machte mich rasch zur Nacht fertig und betrat das Zimmer wie ein Laiendarsteller in einem Agentenfilm. Ich kroch unter die Decke, es war stickig, mir stand der Schweiß auf der Stirn, ich wählte weiter unermüdlich Bans Nummer. Ausgeschaltet! Immer ausgeschaltet! Verdammt, er konnte ihnen doch noch nicht ins Netz gegangen sein?
So ging das bis nach drei Uhr in der Nacht, dann machte ich ein Fenster auf, um zu lüften, reckte ein paarmal den Kopf, wie eine Glatzkopf-Gans
[13] ,
die in einem Häftlingskäfig steckt.
Aufgeregt, beklommen; beklommen, aufgeregt. Ich machte die Tür auf, stand im Wohnzimmer herum und zog mich wie ein Traumwandler wieder zurück. Dieser gute Ban, der war überkühn, der dachte nicht
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