Die Kunst des guten Beendens
als Niederlage betrachtet wird oder weil man beispielsweise einen Menschen, der einen verlässt, gewissermaßen aus Verletzung und Trotz nichtbetrauern will oder kann. Wer einen Menschen verliert, verliert das Vergangene, Erlebte, die Gegenwart und die Hoffnungen auf eine mögliche Zukunft. Das alles will im Trauerprozess akzeptiert werden. Das macht eine Veränderung des Selbstbildes und eine Neubestimmung der Identität notwendig.
Ein Trauerprozess erfordert viel Zeit und viel Energie. Kann nicht getrauert werden, erzwingt oft eine Depression die Suche nach dem eigenen Selbst und dem Selbstwertgefühl nach dem Verlust. Das ist vor allem dann notwendig, wenn ein Mensch zu wenig das eigene Leben gelebt und sich zu sehr an eine andere Person angepasst hat. Wenn diese andere Person stirbt, verliert man nicht nur den geliebten Menschen, sondern auch jenen Menschen, der einem den Selbstwert gegeben und für den man sich selbst aufgegeben hat.
In der Trauer bringen wir dem Verlorenen nochmals unsere Liebe dar. Ein Trauerprozess geht in mehreren Phasen vonstatten. Verena Kast 31 hat den Trauerprozess in vier Phasen gegliedert, die ich im Folgenden erläutere:
Nicht-wahrhaben-Wollen: Es ist die Phase des Schocks, des bösen Traums, es darf gar nicht wahr sein. Diese Phase kann – nach einem Verlust, nach einer schlimmen Ankündigung – Stunden und Tage dauern.
Aufbrechende chaotische Emotionen: Es sind heftige, oft widersprüchliche Gefühle, die von einem Besitz nehmen, wie Wut und Zorn, Sehnsucht, Liebe, Angst, Schuldgefühle, Dankbarkeit. Der Umgang mit Angst ist dabei ganz zentral. Nur wenn wir alle diese chaotischen Gefühle zulassen, kommen wir in Kontakt mit jenen Energien, die die dritte Phase des Trauerns ermöglichen.
Die eigentliche Trauerphase: Erinnerungen, Träume und Gespräche finden statt. Das Verlorene wird nochmals gewürdigt und gesucht. Projektionen und Delegationen, was vor dem Verlust möglich war und jetzt unmöglich ist – all das muss zurückgenommen werden. Ebenso die Idealisierungen oder die Ambivalenzen und möglicherweisenegative und chaotische und widersprüchliche Gefühle. Sie alle bedürfen der Auflösung. Was der verlorene Mensch oder das verlorene Gut im Positiven in uns geweckt und belebt haben, muss nicht verloren gehen. Es kann in den in uns belebten und vielleicht auch vom Verlorenen herausgeliebten Seiten in uns weiterleben. Am Ende der dritten Phase wird der Verlust akzeptiert. Man wendet sich wieder dem Leben und den Menschen zu. Gerade diese Phase kann aber sehr lang, sehr schwierig und mit vielen Komplikationen verbunden sein. Dann ist es angesagt, sich eine Begleitung in der Trauer zu suchen.
Neuer Selbst- und Weltbezug: Nach einem Trauerprozess steht ein Mensch an einem anderen, neuen Ort in seinem Leben. Vor dem Hintergrund von Verlust und von durchlittener Trauer werden Beziehungen als kostbarer erlebt. Eine Person hat lernen müssen, die schwierigsten Gefühle auszuhalten und zu regulieren. Dadurch wird das Selbstbewusstsein gestärkt. Es wird klarer, was wirklich trägt im Leben. Der Alltag wird abschiedlicher und damit auch gegenwärtiger und erfüllter erlebt. Was letztlich bleibt, ist die Liebe – zu sich selbst, zum Leben.
Es wird, wie bereits erwähnt, nicht empfohlen, einen anderen Menschen oder ein Objekt mehr zu lieben als sich selbst; nicht mehr, als durch die Fähigkeit der Selbstberuhigung und Selbsttröstung ausgeglichen werden kann. Bei der Melancholie und bei der Depression wird am verlorenen oder toten Objekt festgehalten, weil der eigene Selbstwert damit verbunden ist. Ein eigenständiger Selbstwert und die Fähigkeit zur Selbstberuhigung sind nicht vorhanden und auch nicht die Fähigkeit, in einer schöpferischen, symbolisierenden Art zu trauern.
Dazu ein Beispiel. Ein schwerkranker Mann, Henry, schreibt in seinem Abschiedsbrief an seine Frau: »Der Tod meiner Mutter hat meinen Vater vollkommen aufgezehrt. Sie hätte das nie und nimmer gewollt. Jede Minute seines Lebenswar seitdem von ihrer Abwesenheit geprägt. Jeder Handlung fehlte Bedeutung, weil sie nicht da war, um als Maßstab zu dienen. Als ich klein war, konnte ich das nicht verstehen, doch inzwischen weiß ich, dass Abwesenheit sehr präsent sein kann, wie ein kaputter Nerv, wie ein dunkler Vogel. Ich habe Hoffnung, ich habe diese Vision von dir, dass du nach meinem Tod unbelastet weitergehst, dein Haar glänzend in der Sonne.« 32
Therapie und Psychoanalyse sind Prototypen erinnernder
Weitere Kostenlose Bücher