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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Wachzustand ein paar Tage später in diesem Café in den ersten Morgenstunden. Er warf mir einen Blick zu und schien mich wiederzuerkennen. Er sah erschrocken aus und rannte davon, ohne mir Gelegenheit zu geben, ihn anzusprechen.
    Ich kam noch einmal wieder in dieses selbe Café und das war, als sich die Richtung meines »Träumens« veränderte. Während ich das Lokal von der anderen Straßenseite her beobachtete, veränderte sich die Szenerie. Ich konnte die vertrauten Gebäude nicht mehr erkennen, und statt dessen sah ich eine urzeitliche Landschaft. Es war nicht mehr Nacht. Es war heller Tag, und ich blickte in ein saftig grünes Tal. Überall standen tiefgrüne, schilfähnliche Sumpfpflanzen. In der Nähe befand sich ein Felsband von zwei bis drei Meter Höhe. Dort hockte ein riesiger
    Säbelzahntiger. Ich war wie versteinert. Lange Zeit blickten wir einander starr an. Die Größe dieses Tieres war erschreckend, und doch war es nicht grotesk oder unproportioniert. Es hatte einen herrlichen Kopf, große Augen von der Farbe dunklen Honigs, breite Pranken, einen gewaltigen Brustkorb. Was mich am meisten beeindruckte, war die Farbe seines Fells. Es war einheitlich dunkelbraun, beinahe schokoladenfarben. Die Farbe erinnerte mich an geröstete Kaffeebohnen, nur strahlender; es hatte ein eigenartig langes Fell, nicht struppig oder verfilzt.
    Es hatte keine Ähnlichkeit mit dem Fell eines Pumas oder eines Wolfes, auch nicht mit dem eines Eisbären. Es sah aus wie etwas, das ich noch nie vorher gesehen hatte.
    Von dieser Zeit an wurde es für mich eine Gewohnheit, den Tiger zu sehen. Manchmal war die Szenerie frostig und wolkenverhangen. Ich sah den Regen im Tal, dichten, ausgiebigen Regen.
    Zu anderen Malen lag das Tal in Sonnenlicht gebadet. Oft sah ich auch andere Säbelzahntiger in diesem Tal. Ich konnte ihr unverkennbares, heiseres Brüllen hören. Für mich ein höchst abstoßendes Geräusch.
    Der Tiger rührte mich niemals an. Wir starrten uns lediglich aus drei oder vier Meter Entfernung an. Ich wußte, was er von mir wollte. Er zeigte mir eine besondere Art zu atmen.
    Bei meinem »Träumen« gelangte ich an den Punkt, wo ich das Atmen des Tigers so gut nachahmen konnte, daß ich meinte, mich selbst in einen Tiger zu verwandeln. Ein spürbares Ergebnis meines »Träumens« so erzählte ich den Lehrlingen, war, daß mein Körper muskulöser wurde.
    Nachdem sie meinen Bericht angehört hatten, verwunderte Nestor sich, wie sehr ihr »Träumen« sich von dem meinen unterschied. Sie hatten besondere »Traum«-Aufgaben zu erfüllen. Die seine bestand darin, Heilmittel für alle möglichen Leiden des menschlichen Körpers zu finden.
    Benignos Aufgabe war, Lösungen für alle möglichen menschlichen Sorgen zu erkennen, vorherzusagen und zu finden. Pablitos Aufgabe war, Arten des Bauens zu finden. Diese Aufgaben, so sagte Nestor, seien der Grund, warum er sich mit Heilpflanzen befaßte, warum Benigno ein Orakel hatte und Pablito ein Schreiner war. Bislang, so sagte er, hätten sie erst an der Oberfläche ihres »Träumens« gekratzt und hätten daher nichts Wesentliches zu berichten.
    »Du glaubst vielleicht, wir haben Wunder was getan, aber das haben wir nicht. Genaro und der Nagual haben alles für uns und für diese vier Frauen getan. Wir selbst haben bisher noch nichts getan.«
    »Mir kommt es so vor, als hätte der Nagual bei dir einen anderen Weg eingeschlagen«, sagte Benigno, wobei er sehr langsam und bedächtig sprach. »Anscheinend warst du früher einmal ein Tiger, und ganz bestimmt wirst du wieder einer werden. Das ist's, was auch dem Nagual geschah. Er ist einmal eine Krähe gewesen, und im Lauf seines Lebens verwandelte er sich wieder in eine.“
    »Die Schwierigkeit ist nur, daß diese Art Tiger nicht mehr existiert«, sagte Nestor. »Wir haben noch nie gehört, was in einem solchen Fall geschieht.«
    Er machte eine ausgreifende Handbewegung, die sie alle umfaßte.
    Ach weiß, was geschieht«, sagte la Gorda. »Ich erinnere mich daran, daß der Nagual Juan Matus dies als Geister-Träumen bezeichnete. Er sagte, daß keiner von uns das Geister-Träumen praktiziert hat, weil wir nicht gewalttätig oder destruktiv sind. Er selbst hat es auch nicht praktiziert. Und jeder, der es erlebt, so sagte er, ist vom Schicksal ausersehen, Geister als Helfer und Verbündete zu haben.«
    »Was bedeutet das, Gorda?« fragte ich.
    »Es bedeutet, daß du nicht so bist wie wir«, erwiderte sie feierlich.
    La Gorda wirkte sehr

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