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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Wucht ihres Stoßes ließ mich wie einen Ball über den Boden kollern.
    »Warum machst du das, Gorda?« fragte ich ein wenig verärgert über sie.
    »Ich will dir helfen, dich zu erinnern«, sagte sie. »Der Nagual sagte mir, ich soll dir von Zeit zu Zeit einen Stoß geben, um dich aufzuschrecken.«
    La Gorda umarmte mich mit einer ganz spontanen Bewegung.
    »Hilf uns, Nagual«, flehte sie. »Wenn du's nicht tust, steht es schlimmer um uns, als wenn wir tot wären.«
    Ich war den Tränen nahe. Nicht wegen dem Dilemma der anderen, sondern weil ich spürte, wie irgend etwas sich in mir regte. Es war etwas, das schon die ganze Zeit, seit unserem Besuch in jener Stadt, an die Oberfläche drängte.
    La Gordas Flehen war herzerweichend. Dann hatte ich wieder einen Anfall von, wie es schien, Hyperventilation. Ich war in kalten Schweiß gebadet, und dann wurde mir übel. La Gorda nahm sich meiner mit großer Sanftheit an.
    Getreu ihrer Gepflogenheit, eine Weile zu warten, bis sie eine Entdeckung mitteilte, weigerte sich la Gorda, über unser »Zusammen-Sehen« in Oaxaca zu sprachen. Tagelang schien sie geistesabwesend und absichtlich desinteressiert. Sie wollte nicht einmal über die Übelkeit sprechen, die mich befallen hatte. Auch die anderen Frauen nicht. Don Juan hatte stets die Notwendigkeit betont, auf den geeigneten Augenblick zu warten, um etwas loszulassen, das wir sonst festhalten. Ich verstand den Mechanismus von La Gordas Verhalten, obwohl ich ihr beharrliches Warten eher langweilig und nicht im Einklang mit unseren
    Bedürfnissen fand. Ich konnte nicht allzu lange bei ihnen bleiben. Ich verlangte, wir sollten uns alle zusammensetzen und einander alles sagen, was wir wußten. Sie blieb unerbittlich.
    »Wir müssen warten«, sagte sie. »Wir müssen unserem Körper eine Chance geben, selbst eine Lösung zu finden. Unsere Aufgabe ist das Erinnern, und zwar nicht mit unseren Gedanken, sondern mit unserem Körper. Jeder von uns versteht es so.«
    Sie sah mich fragend an. Sie schien auf ein Zeichen zu warten, dem sie entnehmen konnte, daß auch ich diese Aufgabe verstanden hatte. Ich mußte zugeben, daß ich gründlich verwirrt war, da ich der Außenstehende war. Ich war allein, während sie sich gegenseitig bestätigen konnten.
    »Dies ist das Schweigen der Krieger«, sagte sie lachend und fügte dann in versöhnlicherem Ton hinzu: »Dieses Schweigen bedeutet nicht, daß wir nicht über irgend etwas anderes sprechen könnten.«
    »Vielleicht sollten wir unser altes Gespräch über das Verlieren der menschlichen Form fortsetzen«, schlug ich vor.
    In ihren Augen zeigte sich Verärgerung. Ich erklärte ihr ausführlich, daß ich, besonders wenn ich es mit mir fremden Ideen zu tun hatte, mir immer ihre Bedeutung klarzumachen suchte.
    »Was willst du denn nun genau wissen?« fragte sie.
    »Alles, was du mir sagen willst«, sagte ich.
    »Der Nagual erzählte mir, daß das Verlieren der menschlichen Form zur Freiheit führt. Ich glaube es. Aber ich habe diese Freiheit nicht empfunden. Noch nicht.«
    Eine Weile herrschte Schweigen. Offenbar suchte sie meine Reaktion abzuschätzen.
    »Was für eine Freiheit ist das, Gorda?« fragte ich.
    »Die Freiheit, dein Selbst zu erinnern«, sagte sie. »Der Nagual sagte, das Verlieren der menschlichen Form ist wie eine Spirale. Es gibt dir die Freiheit, dich zu erinnern, und dies wiederum macht dich noch freier.«
    »Warum hast du diese Freiheit noch nicht verspürt?« fragte ich.
    Sie schnalzte mit der Zunge und zuckte die Schultern. Sie schien verwirrt oder nicht gewillt, unser Gespräch fortzusetzen.
    »Ich bin an dich gefesselt«, sagte sie. »Solange du nicht deine menschliche Form verloren hast und dich erinnerst, werde ich nicht erfahren, was diese Freiheit ist. Aber vielleicht wirst du deine menschliche Form nicht verlieren können, solange du dich nicht zuerst erinnerst. Wir sollten sowieso nicht über all das reden. Warum gehst du nicht zu den Genaros und redest mit ihnen?«
    Sie hörte sich an wie eine Mutter, die ihr Kind zum Spielen hinausschickt. Ich verargte es ihr nicht im mindesten. Bei anderen hätte ich eine solche Haltung leicht als Arroganz oder Geringschätzung auf gefaßt. Ich war gern mit ihr zusammen, das war der Unterschied.
    Ich traf Pablito, Nestor und Benigno in Genaros Haus an, als sie gerade ein merkwürdiges Spiel spielten. Pablito hing etwa vier Fuß über dem Boden an einem, wie mir schien, dunklen Ledergeschirr, das unter seinen Achseln um seine Brust

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