Die Kunst des Pirschens
geschnallt war. Das Geschirr sah aus wie ein festes Lederwams. Als ich meine Aufmerksamkeit darauf konzentrierte, bemerkte ich, daß Pablito eigentlich in irgendwelchen festen Gurtschlingen stand, die wie Steigbügel von dem Geschirr herabhingen. Er schwebte in der Mitte des Raumes an zwei Seilen, die um einen dicken runden Querbalken liefen, auf dem das Dach ruhte. Jedes der beiden Seile war über Pablitos Schultern mit einem Eisenring an dem Geschirr selbst befestigt. Nestor und Benigno hielten jeder ein Seilende in der Hand. Sie standen einander gegenüber und hielten Pablito durch ihren Zug am Seil in der Luft. Pablito klammerte sich mit aller Kraft an zwei lange dünne, in den Boden verankerte Stangen, die er bequem mit den Händen umspannen konnte.
Nestor stand links von Pablito und Benigno rechts von ihm. Das Spiel kam mir wie ein dreiseitiges Tauziehen vor, ein wilder Kampf zwischen denen, die an den Tauen zogen, und dem einen, der in der Luft schwebte.
Als ich ins Zimmer trat, hörte ich nichts anderes als das schwere Atmen von Nestor und Benigno. Die Muskeln an ihren Armen und Hälsen sprangen von der Anstrengung des Ziehens hervor.
Pablito behielt die beiden scharf im Auge, wobei er abwechselnd den einen oder den anderen einen Sekundenbruchteil lang anschaute. Alle waren sie so sehr in ihr Spiel vertieft, daß sie meine Anwesenheit gar nicht bemerkten, oder falls sie es doch taten, konnten sie es sich nicht leisten, ihre Konzentration zu unterbrechen, um mich zu begrüßen.
Nestor und Benigno starrten einander fünf bis zehn Minuten in völligem Schweigen an. Dann tat Nestor so, als wolle er sein Seil loslassen. Benigno fiel nicht darauf herein, wohl aber Pablito. Er packte mit der linken Hand fester zu und stemmte seine Füße gegen die Stangen, um sich mit aller Kraft festhalten zu können. Benigno nutzte den Augenblick und hängte sich mächtig ins Seil, gerade als Pablito seinen Griff lockerte.
Benignos Zug am Seil kam für Nestor und Pablito ganz überraschend. Benigno hängte sich mit seinem ganzen Gewicht ans Seil. Nestor war ausmanövriert. Pablito kämpfte verzweifelt, um sich im Gleichgewicht zu halten. Es war vergeblich. Benigno hatte die Runde gewonnen.
Pablito stieg aus dem Geschirr und kam auf mich zu. Ich befragte ihn über dieses ungewöhnliche Spiel. Irgendwie schien er nicht gewillt zu sprechen. Nestor und Benigno gesellten sich zu uns, nachdem sie das Gerät beiseite geschafft hatten. Nestor sagte, daß Pablito sich dieses Spiel ausgedacht hätte; er hatte das Prinzip beim »Träumen« gefunden und es dann als Spiel konstruiert. Anfangs war es ein Gerät, bei dem es darum ging, daß zwei von ihnen gleichzeitig ihre Muskeln anspannten. Abwechselnd ließen sie sich am Seil hochhieven. Dann aber zeigte Benignos »Träumen« ihnen die Möglichkeit eines neuen Spiels, bei dem alle drei ihre Muskeln anspannen mußten, und sie schärften ihre visuelle Reaktionsfähigkeit, indem sie manchmal stundenlang in einem Zustand der Wachsamkeit verharrten.
»Benigno meint, daß es unserem Körper hilft, sich zu erinnern«, fuhr Nestor fort. »La Gorda zum Beispiel spielt ganz unheimlich. Sie gewinnt jedesmal, ganz gleich welchen Platz sie einnimmt. Benigno glaubt, es kommt daher, weil ihr Körper sich erinnert.« Ich fragte sie, ob sie ebenfalls ein Schweige-Tabu hätten. Sie lachten, Pablito sagte, la Gorda habe nur den einen Wunsch, dem Nagual Juan Matus ähnlich zu werden. Sie ahme ihn vorsätzlich nach, bis in die absurdesten Einzelheiten.
»Du meinst also, wir können über alles sprechen, was gestern abend geschah?« fragte ich - beinahe verblüfft, nachdem la Gorda gerade dies so nachdrücklich zu verhindern versucht hatte.
»Uns ist's egal«, sagte Pablito. »Du bist der Nagual!«
»Benigno hier erinnert sich an etwas wirklich, wirklich Unheimliches«, sagte Nestor, ohne mich anzusehen.
»Mir selbst kommt es wie ein vermischter Traum vor«, sagte Benigno. »Aber Nestor meint, das war's nicht.«
Ich wartete ungeduldig. Mit einer Kopfbewegung drängte ich sie, weiterzuerzählen.
»Damals erinnerte er sich, wie du ihn lehrtest, in der weichen Erde nach Spuren zu suchen«, sagte Nestor.
»Das mußt du geträumt haben«, sagte ich.
Ich wollte über diese absurde Vorstellung lachen, aber alle drei sahen mich mit flehenden Blicken an.
»Es ist absurd«, sagte ich.
»Wie auch immer, vielleicht sollte ich dir jetzt erzählen, daß ich eine ganz ähnliche Erinnerung habe«, sagte Nestor.
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